Hermann Adler
Der in Leipzig zum Dr. phil. promovierte Hermann Adler galt als einflussreiche Persönlichkeit, die sowohl im jüdischen Leben wie auch innerhalb der Öffentlichkeit Großbritanniens insgesamt, wo er hauptsächlich wirkte, großes Ansehen genoss. Seine Grundposition kann der religiös-konservativen Strömung des Judentums zugerechnet werden. – Geboren in
Hannover als mutmaßlich jüngstes Kind eines deutsch-britischen Oberrabbiners, ging Adler bereits im Alter von etwa sechs Jahren 1845 mit den Eltern nach England, wo sein Vater Nathan Marcus zum Chief Rabbi Großbritanniens ernannt wurde. Seine Ausbildung durchlief er dann mit sehr guten Resultaten an der University College School in London mit einem Studium der Philologie, Philosophie und Mathematik sowie anschließend am Rabbinerkollegium in
Prag, wo er sich 1860 bis 1862 aufhielt. Offenkundige Schwierigkeiten, in England wie gewünscht promovieren zu können, führten Ende 1861 zu einer Bewerbung Adlers an der Universität in Leipzig. Mit der Ambition, nach England zurückzukehren, legte er dort für seine Promotion eine in Englisch verfasste Abhandlung mit dem Titel „On Orvids and Orvidium“ vor, die sich mit dem keltischen Druidentum befasste. Dass diese Arbeit nicht auf Deutsch verfasst war, führte zum heftigen Widerspruch eines Gutachters (vermutlich handelte es sich um den Historiker Heinrich Wuttke), der Adler zudem eine fehlende Literaturbasis und methodische Mängel vorwarf. Letztere würden sich auch aus einer angeblich der deutschen unterlegenen Wissenschaftskultur erklären, Adlers Arbeit sei zwar „gewandt und bündig“ geschrieben, vermöge aber nichts Neues zu liefern, lautete die Kritik. Trotzdem wurde Adler noch im Dezember 1861 in Leipzig promoviert. Nach erfolgter Rabbinerordination in Prag kehrte er nach England zurück. Dort fand er etwa 1863 eine Anstellung als Lehrbeauftragter und Direktor am Jews’ College. 1864 konnte er sich mit seiner Bewerbung um einen Posten als Gemeindevorstand in der Synagoge des Londoner Stadtteils
Bayswater durchsetzen, der er 27 Jahre lang verbunden bleiben sollte. Seinen erkrankten Vater unterstützte er bis zu dessen Tod 1890. Im Juni 1891 wurde Adler als dessen Nachfolger zum Oberrabbiner der britischen Gemeinden gewählt. In seinen zahlreichen Predigten galt er als versiert, geradeheraus und redegewandt. Nachdem kurz hintereinander sein einziger Sohn
Solomon Alfred sowie sein Bruder
Marcus Nathan verstorben waren, verstarb Adler selbst nur wenige Monate nach dessen Ableben im Sommer 1911. Bereits über 70 Jahre alt und mit nachlassenden Kräften konfrontiert, hatte er in einem kurz zuvor aufgesetzten Vermächtnis sein Unbehagen über die Zukunft der jüdischen Gemeinden in England zum Ausdruck gebracht und bemerkt, sein Nachfolger als Oberrabbiner müsse als starke und ausgleichende Persönlichkeit eine Verständigung innerhalb des Judentums herbeiführen. Innerhalb seiner vielen Amtsjahre hatte Adler wachsende Spannungen erlebt, die u.a. aus der steigenden Zuwanderung russisch-jüdischer Flüchtlinge Richtung Westeuropa Ende des 19. Jahrhunderts resultierten. Prägung und Habitus der Neuankömmlinge, so fürchtete Adler, drohten die mühsam errungene Position des Judentums in England zu torpedieren. Hinzu kam die drängende Frage des politischen Zionismus, dem der orthodoxe Adler auch nach einer Palästinareise 1885 mit scharfer Ablehnung gegenübertrat. Über den zionistischen Vordenker Theodor Herzl äußerte sich Adler wiederholt negativ, woraufhin Herzl ihn in einem Brief an Max Nordau vom 29.11.1898 als „Lumpenkerl“ und „Londoner Herrgottsfopper“ titulierte. – In der retrospektiven Wertung bleibt von Adler das zwiespältige Bild eines verantwortungsvollen Amtsträgers mit hohem Arbeitspensum während seiner Zeit als Oberrabbiner, dem es gleichwohl nicht immer gelang, Verständnis und Lösungsansätze für die jeweiligen Problemlagen zu entwickeln. Inwieweit dies angesichts der Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend komplexer werdenden Religions- und Weltfragen und auch innerjüdischen Konflikte überhaupt möglich gewesen wäre, ist fraglich. Adler hinterließ eine Vielzahl an Predigten und dazu Publikationen zur englisch-jüdischen Geschichte. Zudem trug er die Titel D.C.L. (Doctor of Civil Law) und C.V.O. (Commander of the Royal Victorian Order).
Quellen Universitätsarchiv Leipzig, Phil. Fak. Prom. 00406; Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. 4, bearb. von Barbara Schäfer, Berlin 1990.
Werke On Orvids and Orvidium, Diss. Leipzig 1861; A Jewish Reply to Dr. Colenso‘s Criticism on the Pentateuch, London 1865; Ibn Gabirol and His Influence upon Scholastic Philosophy, London 1865; A course of sermons on the Biblical passages adduced by Christian theologians in support of the dogmas of their faith, London 1869.
Literatur Alexander Dietz, Stammbuch der Frankfurter Juden, Frankfurt/Main 1907; Marcus N. Adler, The Adler-Family, in: The Jewish Chronicle. The Organ of British Jewry 11.6.1909, S. 24-26; Adolf Diamant, Chronik der Juden in Leipzig. Aufstieg, Vernichtung und Neuanfang, Chemnitz/Leipzig 1993; Jonathan Sacks, Community of Faith, London 1995. – DBA II; III; Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 3: Biographisches Lexikon der Juden in den Bereichen: Wissenschaft, Kultur, Bildung, Öffentlichkeitsarbeit in Frankfurt am Main, Darmstadt 1983, S. 13f.; Michael Brocke/Julius Carlebach (Hg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und grosspolnischen Ländern 1781-1871, Bd. 1, München 2004, S. 126f.
Porträt The Rev. Hermann Adler, Ph.D., Fotografie, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Inventar-Nr. PORT_00025311_01 POR MAG (Bildquelle).
Lucas Böhme
22.7.2025
Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Hermann Adler,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27851 [Zugriff 10.8.2025].
Hermann Adler
Quellen Universitätsarchiv Leipzig, Phil. Fak. Prom. 00406; Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. 4, bearb. von Barbara Schäfer, Berlin 1990.
Werke On Orvids and Orvidium, Diss. Leipzig 1861; A Jewish Reply to Dr. Colenso‘s Criticism on the Pentateuch, London 1865; Ibn Gabirol and His Influence upon Scholastic Philosophy, London 1865; A course of sermons on the Biblical passages adduced by Christian theologians in support of the dogmas of their faith, London 1869.
Literatur Alexander Dietz, Stammbuch der Frankfurter Juden, Frankfurt/Main 1907; Marcus N. Adler, The Adler-Family, in: The Jewish Chronicle. The Organ of British Jewry 11.6.1909, S. 24-26; Adolf Diamant, Chronik der Juden in Leipzig. Aufstieg, Vernichtung und Neuanfang, Chemnitz/Leipzig 1993; Jonathan Sacks, Community of Faith, London 1995. – DBA II; III; Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 3: Biographisches Lexikon der Juden in den Bereichen: Wissenschaft, Kultur, Bildung, Öffentlichkeitsarbeit in Frankfurt am Main, Darmstadt 1983, S. 13f.; Michael Brocke/Julius Carlebach (Hg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und grosspolnischen Ländern 1781-1871, Bd. 1, München 2004, S. 126f.
Porträt The Rev. Hermann Adler, Ph.D., Fotografie, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Inventar-Nr. PORT_00025311_01 POR MAG (Bildquelle).
Lucas Böhme
22.7.2025
Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Hermann Adler,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27851 [Zugriff 10.8.2025].