Johannes Delitsch
Als Sohn eines Theologen und Leipziger Geografieprofessors und einer ehemaligen Lieblingsschülerin
Friedrich Fröbels wurde D. bereits im Elternhaus zu aktivem Engagement für die sozial Schwachen in der Gesellschaft erzogen. Er besuchte bis zur Quarta die Nikolaischule in Leipzig, zog dann jedoch auf ärztliches Anraten ins Vogtland und absolvierte 1873 bis 1878 das Königliche Lehrerseminar in Plauen. Nach kurzer Hauslehrertätigkeit in Hannover und einem Zusatzstudium an der Universität Leipzig wurde er Volksschullehrer in Plauen. Bereits im Schuljahr 1880/81 untersuchte er in einer Volksschulklasse die Freundschaftsbeziehungen zwischen 53 Schülern und erfasste sie in einer Soziomatrix. Der dazu von D. 1900 veröffentlichte Aufsatz gilt heute als früher Vorläufer der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse. Gleichzeitig nahm er sich der lernschwachen Schüler an, für deren Förderung es damals kaum wissenschaftliche Erkenntnisse gab. Er knüpfte an die ersten Versuche des Plauener Schuldirektors
Karl Friedrich Höckner an und bemühte sich um ein individuelles Eingehen auf die unterschiedlichen Defizite der Kinder. Ende der 1890er-Jahre fasste er die betroffenen Schüler in gesonderten Hilfsschulklassen zusammen. D. suchte den Gedankenaustausch mit Kollegen in anderen Städten, wobei er sich stets als Lernender verstand, obwohl er immer mehr zum Gebenden wurde. 1904 war er maßgeblich an der Gründung des „Sächsischen Hilfsschullehrervereins“ beteiligt, dessen Vorsitzender er wurde. 1906 erfüllte sich sein Wunsch, die Plauener Hilfsschulklassen in einer eigenständigen Hilfsschule zu vereinen, der er als Direktor vorstand. Das separate Schulhaus für 200 Schüler in zehn Klassen ermöglichte differenzierte Arbeitsweisen mit Stotterern und Stammlern sowie mit rechtschreib- oder rechenschwachen Schülern. Unter D.s Leitung strahlte die Plauener Hilfsschule beispielgebend auf andere Städte Sachsens, Frankens und Mecklenburgs aus. – Parallel zu seiner Tätigkeit als Hilfsschuldirektor setzte sich D. unermüdlich für den Schutz der Kinder und Jugendlichen ein, v.a. lag ihm die Fürsorge für gefährdete Kinder in sozial schwierigen Familien am Herzen. 1908 gründete er in Plauen den Verein „Jugendfürsorge“, der sich „Pflege, Zucht und Schutz der Jugend von der Geburt bis zur Mündigkeit“ zum Ziel setzte und binnen Jahresfrist mehr als 1.000 Mitglieder zählte, darunter viele Lehrer. Die Vereinsaktivitäten konzentrierten sich auf vier Schwerpunkte. Ein erster war die Aufklärung der Eltern über gesundheitliche Probleme der Kinder. 1908 veröffentlichte D. ein Flugblatt zum Kampf gegen die Rachitis, das in 600.000 Exemplaren in Sachsen, Preußen und in Österreich-Ungarn verbreitet wurde, später folgten Aufforderungen zur Wahrnehmung der Impfpflicht gegen Kinderkrankheiten sowie Forderungen nach durchgehender ärztlicher Betreuung der Kinder von der Geburt bis zur Einschulung. Eine zweite Aufgabe sah der von D. geleitete Verein darin, Jugendlichen und deren Eltern vertrauliche Gespräche bei Erziehungsschwierigkeiten anzubieten, um oft ausweglos scheinende familiäre Zerrüttungen zu überwinden. Davon wurde zwischen 1908 und 1918 insgesamt rund 7.300 Mal Gebrauch gemacht. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen veröffentlichte D. in der Zeitschrift „Plauener Jugendfürsorge“, die von 1908 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in unregelmäßiger Folge erschien und in jeweils 5.000 Exemplaren unentgeltlich in der Stadt verteilt wurde. Ein drittes Arbeitsfeld des Vereins war die Gründung von Kinderhorten. 1908 bis 1918 wurden acht Kinderhorte mit insgesamt 508 Plätzen, vornehmlich für Mädchen, geschaffen, während sich ein anderer Plauener Verein um analoge Einrichtungen für Knaben kümmerte. Schließlich initiierte der Verein „Jugendfürsorge“ in Plauen den Bau eines Rettungshauses für Kinder und Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr. D. gewann den Stadtrat für das Projekt, der das Grundstück und das Startkapital zur Verfügung stellte, und er organisierte im März 1911 in Plauen einen „Margaretentag“, an dem Betriebe, Geschäfte, Gaststätten und Einzelpersonen insgesamt 70.000 Mark spendeten und so die Finanzierung sicherten. Am 20.10.1911 wurde das „
Friedrich-Krause-Stift“ mit seinen 35 Plätzen eingeweiht. Bis 1931 nahm es insgesamt 334 Zöglinge auf, die nach längerem Aufenthalt gefestigt das Heim verlassen konnten, dazu kamen noch zahlreiche Kinder und Jugendliche, die vom Verein „Jugendfürsorge“ kurzfristig betreut wurden. – Schließlich setzte sich D. gemeinsam mit Plauener Juristen für die Reform der Jugendgerichtsbarkeit ein. Er verurteilte die damals gültige Strafmündigkeit mit zwölf Jahren als viel zu früh und forderte eine gründliche Ursachenanalyse für die Vergehen jugendlicher Straftäter. – In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten war D. ein gefragter Referent bei pädagogischen Kongressen in ganz Deutschland, er schrieb regelmäßig wissenschaftliche Aufsätze für einschlägige Fachzeitschriften und betreute Studenten in sozialpädagogischen Praktika. Im Sommer 1919 verfolgte er mit ganzer Kraft das Projekt einer eigenen sozialpädagogischen Zeitschrift, die unter dem Titel „Kind und Jugend“ in Deutschland und in den USA erscheinen sollte. Doch das Vorhaben kam über erste Anfänge nicht hinaus, da D. im April 1920 - seit langem von einer Krankheit gezeichnet - plötzlich einem Schlaganfall erlag.
Quellen Stadtarchiv Plauen, Akten des Stadtrates zu Plauen, Akten der Verwaltung der Kreisstadt Plauen (Schulamt), Akten des Polizeiamtes der Stadt Plauen; Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Kreisstadt Plauen i.V. auf die Jahre 1908, 1909 und 1910, Plauen 1912; Verwaltungsbericht der Kreisstadt Plauen auf die Jahre 1911, 1912 und 1913, Plauen 1925; Neue vogtländische Zeitung, 1906-1920; Plauener Sonntags-Anzeiger, 1906-1920; Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, 1906-1920; Vorstellung der Zeitschrift „Kind und Jugend“, in: Die Hilfsschule (Halle/Saale) 13/1920, H. 1, S. 22f.
Werke Über den Alkoholgenuß von Zöglingen einer Hilfsschule, in: Zeitschrift für Kinderforschung 4/1899, S. 123ff.; Über Schülerfreundschaften in einer Volksschulklasse, in: ebd. 5/1900, H. 4, S. 150-163; Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter, Langensalza 1907; Inwieweit ist Rachitis der Kinder durch Trunkenheit der Eltern begründet?, in: Zeitschrift für Kinderforschung 13/1908, H. 6, S. 183f.; Das Plauener Rachitismerkblatt, in: ebd., H. 12, S. 380-382; (Hg.), Plauener Jugendfürsorge, Plauen 1908-1914; Ursachen der Kinderverwahrlosung, in: Zeitschrift für Kinderforschung 15/1910, H. 3, S. 83-87; Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher, Langensalza 1910; mit F. Schmidt, Das Jugendgericht zu Plauen im Vogtland, Langensalza 1911; Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen, in: Zeitschrift für Kinderforschung 17/1912, H. 10, S. 497-511; Selbstbekenntnis eines Sechzehnjährigen, in: ebd. 18/1913, H. 6, S. 319-323; Entwicklung der Bewegungen. Blicke in das Seelenleben des kleinen Kindes, Langensalza 1913; Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung, in: Zeitschrift für Kinderforschung 22/1917, H. 3, S. 136-144, H. 4, S. 214-221; Schwache Schulkinder, in: Die Hilfsschule 10/1917, S. 25-31, 59-61, 82-84; Wohnungsnot und Volkserhaltung, in: Zeitschrift für Kinderforschung 23/1918, H. 5, S. 236-255; Tätigkeitsbericht des Vereins Jugendfürsorge Plauen 1908-1918, hrsg. vom Verein Jugendfürsorge, Plauen 1918; (Hg.), Kind und Jugend. Deutsche Zeitschrift für Entwicklungsforschung und Erzieherberatung 1919-1920.
Literatur A. Bartsch/J. Trüper, † Hilfsschuldirektor Johannes D., in: Zeitschrift für Kinderforschung 25/1920, H. 4, S. 254f.; D. Nagel, Meine Erinnerungen an Johannes D., Plauen [nach 1920]; C. Wustmann, „Wer ein Kind fördert, fördert ein Geschlecht, wer ein Kind rettet, rettet ein Geschlecht“, in: DVJJ-Journal 2002, H. 4, S. 456-461; R. Schmidt, Johannes D. (1858-1920). Hilfsschullehrer und Sozialpädagoge von überregionaler Bedeutung, in: Mitteilungen des Vereins für vogtländische Geschichte, Volks- und Landeskunde 14/2008, S. 27-41 (P); D. Donner, Die Familie Delitsch (Delitzsch, Delitz) mit deren ausgewanderten Zweigen, den relevanten Linien der Familie Wittig und von der Mosel sowie dem schlesischen Stamm, in: ders. (Hg.), Genealogische Fundstücke, Bd. 2, Eltville am Rhein 2014; R. Heidler, ERGM versus Blockmodelle. Vergleich zweier populärer netzwerkanalytischer Methoden, in: M. Gamper/L. Reschke/M. Düring (Hg.), Knoten und Kanten III. Soziale Netzwerkanalyse in Geschichts- und Politikforschung, Bielefeld 2015, S. 109-150.
Porträt Johannes D., H. Axtmann, Fotografie, Stadtarchiv Plauen (Bildquelle).
Roland Schmidt
23.2.2016
Empfohlene Zitierweise:
Roland Schmidt, Artikel: Johannes Delitsch,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27621 [Zugriff 26.11.2024].
Johannes Delitsch
Quellen Stadtarchiv Plauen, Akten des Stadtrates zu Plauen, Akten der Verwaltung der Kreisstadt Plauen (Schulamt), Akten des Polizeiamtes der Stadt Plauen; Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Kreisstadt Plauen i.V. auf die Jahre 1908, 1909 und 1910, Plauen 1912; Verwaltungsbericht der Kreisstadt Plauen auf die Jahre 1911, 1912 und 1913, Plauen 1925; Neue vogtländische Zeitung, 1906-1920; Plauener Sonntags-Anzeiger, 1906-1920; Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, 1906-1920; Vorstellung der Zeitschrift „Kind und Jugend“, in: Die Hilfsschule (Halle/Saale) 13/1920, H. 1, S. 22f.
Werke Über den Alkoholgenuß von Zöglingen einer Hilfsschule, in: Zeitschrift für Kinderforschung 4/1899, S. 123ff.; Über Schülerfreundschaften in einer Volksschulklasse, in: ebd. 5/1900, H. 4, S. 150-163; Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter, Langensalza 1907; Inwieweit ist Rachitis der Kinder durch Trunkenheit der Eltern begründet?, in: Zeitschrift für Kinderforschung 13/1908, H. 6, S. 183f.; Das Plauener Rachitismerkblatt, in: ebd., H. 12, S. 380-382; (Hg.), Plauener Jugendfürsorge, Plauen 1908-1914; Ursachen der Kinderverwahrlosung, in: Zeitschrift für Kinderforschung 15/1910, H. 3, S. 83-87; Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher, Langensalza 1910; mit F. Schmidt, Das Jugendgericht zu Plauen im Vogtland, Langensalza 1911; Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen, in: Zeitschrift für Kinderforschung 17/1912, H. 10, S. 497-511; Selbstbekenntnis eines Sechzehnjährigen, in: ebd. 18/1913, H. 6, S. 319-323; Entwicklung der Bewegungen. Blicke in das Seelenleben des kleinen Kindes, Langensalza 1913; Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung, in: Zeitschrift für Kinderforschung 22/1917, H. 3, S. 136-144, H. 4, S. 214-221; Schwache Schulkinder, in: Die Hilfsschule 10/1917, S. 25-31, 59-61, 82-84; Wohnungsnot und Volkserhaltung, in: Zeitschrift für Kinderforschung 23/1918, H. 5, S. 236-255; Tätigkeitsbericht des Vereins Jugendfürsorge Plauen 1908-1918, hrsg. vom Verein Jugendfürsorge, Plauen 1918; (Hg.), Kind und Jugend. Deutsche Zeitschrift für Entwicklungsforschung und Erzieherberatung 1919-1920.
Literatur A. Bartsch/J. Trüper, † Hilfsschuldirektor Johannes D., in: Zeitschrift für Kinderforschung 25/1920, H. 4, S. 254f.; D. Nagel, Meine Erinnerungen an Johannes D., Plauen [nach 1920]; C. Wustmann, „Wer ein Kind fördert, fördert ein Geschlecht, wer ein Kind rettet, rettet ein Geschlecht“, in: DVJJ-Journal 2002, H. 4, S. 456-461; R. Schmidt, Johannes D. (1858-1920). Hilfsschullehrer und Sozialpädagoge von überregionaler Bedeutung, in: Mitteilungen des Vereins für vogtländische Geschichte, Volks- und Landeskunde 14/2008, S. 27-41 (P); D. Donner, Die Familie Delitsch (Delitzsch, Delitz) mit deren ausgewanderten Zweigen, den relevanten Linien der Familie Wittig und von der Mosel sowie dem schlesischen Stamm, in: ders. (Hg.), Genealogische Fundstücke, Bd. 2, Eltville am Rhein 2014; R. Heidler, ERGM versus Blockmodelle. Vergleich zweier populärer netzwerkanalytischer Methoden, in: M. Gamper/L. Reschke/M. Düring (Hg.), Knoten und Kanten III. Soziale Netzwerkanalyse in Geschichts- und Politikforschung, Bielefeld 2015, S. 109-150.
Porträt Johannes D., H. Axtmann, Fotografie, Stadtarchiv Plauen (Bildquelle).
Roland Schmidt
23.2.2016
Empfohlene Zitierweise:
Roland Schmidt, Artikel: Johannes Delitsch,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27621 [Zugriff 26.11.2024].