Tammo von Bocksdorf
T. stammte aus einer Familie, die dem ritterlichen Niederadel der Niederlausitz angehörte. Auf eine Geburt in den Jahren um 1380 weist die Tatsache hin, dass er 1399 in die Matrikel der Prager Juristenuniversität eingeschrieben wurde. 1402 besaß er drei Altarpfründen in der Lausitz (in Calau, Sommerfeld und Triebel). Nachdem die drei deutschen Nationen die Universität Prag 1409 im Streit verlassen und in Leipzig eine neue Universität gegründet hatten, kam auch T. im Sommersemester 1410 nach Leipzig, wo er sich als „Pragensis“, also als ehemaliger „Prager“ Student immatrikulierte. 1413 ist er als Pfarrer von Calau belegt und war 1416 Offizial des Bischofs Rudolf I. von Meißen. Später gelang ihm der Sprung auf eine Merseburger Domherrenstelle, deren Besitz er sich 1426 vom Papst bestätigen ließ, wobei er als Mitglied der Universität Leipzig und (erstmals bei dieser Gelegenheit ausdrücklich) als Doktor des Kirchenrechts (doctor decretorum) bezeichnet wurde. Sehr wahrscheinlich handelte es sich bei der Merseburger Pfründe also um eines der Universitätskanonikate, die Papst
Martin V. 1421 für zwei Leipziger Professoren der Theologie oder des Kirchenrechts reserviert hatte. T. dürfte also als Rechtslehrer der Leipziger Juristenfakultät angehört haben. 1427 wurde T. päpstlicher Nuntius und Kollektor in der Magdeburger Kirchenprovinz und trat als solcher in den folgenden Jahren mehrmals in Erscheinung. Diese biografischen Eckdaten sprechen dafür, in T. einen hochqualifizierten Juristen mit weit reichenden Verbindungen zu sehen. Als Merseburger Domherr war T. 1431 an der Wahl von Johannes Bose zum Bischof von Merseburg beteiligt. Gestorben ist T., wie verschiedene Suppliken um die durch seinen Tod frei werdende Merseburger Pfründe erkennen lassen, bereits kurz vor dem 7.1.1433 und nicht erst nach 1460, wie es die bisherige Forschung darstellt. Diese identifizierte den Merseburger Domherrn und Leipziger Klerikerjuristen T. jedoch fälschlicherweise mit einem gleichnamigen Vertreter der nächsten Generation der Familie von Bocksdorf. – T.s Werk lässt sich nicht sicher abgrenzen von den Arbeiten seines bedeutenderen Verwandten Dietrich von Bocksdorf, ohne Zweifel ein Neffe, den T. als „geistlicher Onkel“ gefördert haben dürfte und dem er v.a. auch als Jurist vorangegangen ist. T.s Werk hat jedenfalls das gleiche Anliegen wie das seines Neffen, nämlich Hilfestellungen für den Rechtspraktiker im Bereich des sächsischen Rechts zu geben. 1426 fertigte T. im Auftrag des Magdeburger Erzbischofs
Günther von Schwarzburg ein Remissorium zu Sachsenspiegel und Weichbildrecht an, indem er Text und Glosse dieser maßgeblichen Rechtsbücher des sächsisch-magdeburgischen Rechts alphabetisch nach Stichworten ordnete. Diese Arbeit erleichterte den Umgang mit den wenig systematisch aufgebauten Rechtstexten erheblich und verweist auf deren intensive Benutzung in der zeitgenössischen Rechtspraxis. Allerdings ist sie nur in einer einzigen Handschrift überliefert und von erheblich geringerem Umfang als das weit verbreitete und später auch gedruckte Remissorium seines Neffen Dietrich von Bocksdorf. – Noch nicht abschließend geklärt ist bisher, ob bzw. in welchem Umfang die sog. Bocksdorf’schen Additionen zur Sachsenspiegelglosse und die „Bocksdorfsche Vulgata“, die letzte und endgültige Redaktion der Glosse, T. oder Dietrich zuzuschreiben sind. T. hat hier aber sehr wahrscheinlich Vorarbeiten geleistet, wie vielleicht auch für Dietrichs „Sippzahlregeln“ (erbrechtlich relevante Verwandschaftsregeln nach sächsischem Recht). Darauf deuten zumindest einige Aspekte der Überlieferung dieses noch kaum erforschten Texts hin. – Schon diese sich bisher nur schemenhaft abzeichnende Tätigkeit T.s als Rechtsgelehrter reiht ihn ein in eine Linie bedeutender sächsischer Juristen, die von
Johann von Buch, über Dietrich von Bocksdorf, Christoph Zobel und viele andere bis hin zu Benedikt Carpzov dem Jüngeren reicht und deren besondere Leistung die Verwissenschaftlichung des sächsischen Rechts und die Schaffung eines „Gemeinen Sachsenrechts“ gewesen ist. Dies war eine unabdingbare Voraussetzung des zumindest materiellen Fortlebens des sächsischen Rechts unter den Bedingungen der Rezeption der gelehrten Rechte (kanonisches und römisches Recht) seit dem 14. Jahrhundert.
Quellen Domstiftsarchiv St. Petri zu Bautzen, Abt 1. (Urkunden), loc. XVIII, Nr. 10; Repertorium Germanicum, Bd. 2, bearb. v. Gerd Tellenbach, Berlin 1933-38, Sp. 1069, Bd. 4, bearb. von Karl August Fink, Berlin 1943-1958, Sp. 3440f., Bd. 5, bearb. von Hermann Diener und Brigide Schwarz, Tübingen 2004, Nr. 578, 2026, 4596, 4770, 6955; Album seu matricula facultatis juridicae universitatis Pragensis ab anno Christi 1372 usque ad annum 1418, Prag 1834, S. 109; Codex diplomaticus Saxoniae regiae, II. Hauptteil, Bd. 2: Urkundenbuch des Hochstifts Meißen, hrsg. von E. G. Gersdorf, Leipzig 1865, Bd. 16: Die Matrikel der Universität Leipzig 1, hrsg. von Georg Erler, Leipzig 1895; Chronicon episcoporum Merseburgensium zu 1431, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 10, hrsg. von G. H. Pertz, Stuttgart 1852, S. 156-212.
Werke Remissorium zu Sachsenspiegel-Landrecht und Weichbildrecht (ULB Halle, Ye 62, fol. 171r-fol. 235v = Oppitz, Rechtsbücher, Nr. 665).
Literatur M. Cottin, Die Leipziger Universitätskanonikate an den Domkapiteln von Meißen, Merseburg und Naumburg sowie am Kollegiatstift Zeitz im Mittelalter (1413-1542), in: D. Döring (Hg.), Universitätsgeschichte als Landesgeschichte, Leipzig 2007, S. 279-312; M. Wejwoda, Dietrich von Bocksdorf (1405/10-1466). Ein Niederlausitzer als Rechtsgelehrter und Universitätsprofessor, in: Niederlausitzer Studien 35 (2009), S. 26-59, S. 29; ders. Dietrich von Bocksdorf (ca. 1410-1466), Diss. Leipzig (in Vorbereitung). – ADB 2, S. 790f.; DBE I, II; B. Wachinger u.a. (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters 9, 1995, Sp. 596-598 (WV).
Marek Wejwoda
21.10.2009
Empfohlene Zitierweise:
Marek Wejwoda, Artikel: Tammo von Bocksdorf,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25339 [Zugriff 26.11.2024].
Tammo von Bocksdorf
Quellen Domstiftsarchiv St. Petri zu Bautzen, Abt 1. (Urkunden), loc. XVIII, Nr. 10; Repertorium Germanicum, Bd. 2, bearb. v. Gerd Tellenbach, Berlin 1933-38, Sp. 1069, Bd. 4, bearb. von Karl August Fink, Berlin 1943-1958, Sp. 3440f., Bd. 5, bearb. von Hermann Diener und Brigide Schwarz, Tübingen 2004, Nr. 578, 2026, 4596, 4770, 6955; Album seu matricula facultatis juridicae universitatis Pragensis ab anno Christi 1372 usque ad annum 1418, Prag 1834, S. 109; Codex diplomaticus Saxoniae regiae, II. Hauptteil, Bd. 2: Urkundenbuch des Hochstifts Meißen, hrsg. von E. G. Gersdorf, Leipzig 1865, Bd. 16: Die Matrikel der Universität Leipzig 1, hrsg. von Georg Erler, Leipzig 1895; Chronicon episcoporum Merseburgensium zu 1431, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 10, hrsg. von G. H. Pertz, Stuttgart 1852, S. 156-212.
Werke Remissorium zu Sachsenspiegel-Landrecht und Weichbildrecht (ULB Halle, Ye 62, fol. 171r-fol. 235v = Oppitz, Rechtsbücher, Nr. 665).
Literatur M. Cottin, Die Leipziger Universitätskanonikate an den Domkapiteln von Meißen, Merseburg und Naumburg sowie am Kollegiatstift Zeitz im Mittelalter (1413-1542), in: D. Döring (Hg.), Universitätsgeschichte als Landesgeschichte, Leipzig 2007, S. 279-312; M. Wejwoda, Dietrich von Bocksdorf (1405/10-1466). Ein Niederlausitzer als Rechtsgelehrter und Universitätsprofessor, in: Niederlausitzer Studien 35 (2009), S. 26-59, S. 29; ders. Dietrich von Bocksdorf (ca. 1410-1466), Diss. Leipzig (in Vorbereitung). – ADB 2, S. 790f.; DBE I, II; B. Wachinger u.a. (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters 9, 1995, Sp. 596-598 (WV).
Marek Wejwoda
21.10.2009
Empfohlene Zitierweise:
Marek Wejwoda, Artikel: Tammo von Bocksdorf,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/25339 [Zugriff 26.11.2024].