Manfred von Ardenne
A. wurde wegen der außergewöhnlichen Spannweite seiner wissenschaftlichen Interessen, die von der Nachrichtentechnik und Physik bis zur Medizin reichten, bereits zu Lebzeiten gern als einer der großen Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Als Kind zeichnete er sich durch ein ungewöhnliches Interesse an physikalisch-technischen Problemen aus. Ideenreichtum und Gespür für lösbare Aufgaben, verbunden mit außerordentlichem Geschick, ließen den jugendlichen A. rasch in den Kreis der Experten auf dem Gebiet der Rundfunktechnik hineinwachsen. Das Geld für seine Experimente und die daraus erwachsenden Projekte musste sich der mittellose A. selbst erarbeiten, was entscheidend seinen Arbeitsstil prägte und ihn schon als 17-Jährigen in die Selbstständigkeit führte. Durch Mitwirkung an Forschungsvorhaben von strategischer Bedeutung und die Pflege guter Beziehungen zu den Spitzen von Politik und Gesellschaft gelang es A., als freier Unternehmer zu überleben und in drei totalitären Diktaturen wegweisende wissenschaftliche Leistungen zu vollbringen. – Nach seinem vorzeitigen Abgang vom Gymnasium (1923) begann A. mit dem Aufbau eines privaten Forschungsinstituts. Die Mittel stammten aus dem Erlös von Patenten, deren erstes er bereits als 16-Jähriger anmeldete („Verfahren zur Erzielung einer Tonselektion, insbesondere für die Zwecke der drahtlosen Telegraphie“). 1924 erschien sein Buch „Des Funkbastlers erprobte Schaltungen“, das fünf Auflagen erreichte. 1925 durfte er sich dank einer Empfehlung des Nobelpreisträgers Walter Nernst und des technischen Direktors der Firma Telefunken, Graf Georg von Arco, an der
Berliner Universität einschreiben. Er studierte vier Semester Physik, Chemie und Mathematik. Während dieser Zeit brachte die Firma Loewe-Radio in Verbindung mit A. einen Rundfunkempfänger heraus, der sich nicht nur durch eine einfache Bedienung, sondern dank der Verwendung der von A. entwickelten sog. „Dreifachröhre“ auch durch einen vergleichsweise niedrigen Preis auszeichnete. Von diesem Gerät wurden bereits Jahre vor der Entwicklung des legendären „Volksempfängers“ mehrere Millionen Stück verkauft. Im Dezember 1930 gelang A. als erstem der Durchbruch vom mechanisch gestützten zum vollelektronischen Fernsehen. Auf der Berliner Funkausstellung des Jahres 1931 demonstrierte er dieses Verfahren zusammen mit der Firma Loewe. – Im Dritten Reich akquirierte A. die Mittel für seine Forschungen nicht nur aufgrund der militärischen Relevanz einiger seiner Forschungsfelder, sondern v.a. auch durch enge Beziehungen zum Reichspostminister Wilhelm Ohnesorge, der sowohl an Nachrichtentechnik als auch an der sich gerade entwickelnden Kernphysik interessiert war. 1937 konstruierte und baute A. das weltweit erste Elektronenrastermikroskop. Für seinen Beitrag zur Entwicklung der Elektronenmikroskopie erhielt A. 1941 zusammen mit
Bodo von Borries, Max Knoll und Ernst Ruska die Silberne Leibniz-Medaille der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Im selben Jahr begannen am Institut in
Lichterfelde theoretische (Friedrich Houtermans) und experimentelle (60-Tonnen-Zyklotron) Arbeiten zur Kernphysik. – Der nationalsozialistischen Ideologie stand A. distanziert gegenüber. Der Aufforderung seines Gönners Ohnesorge, in die NSDAP einzutreten, leistete er nicht Folge. – Im Mai 1945 nahm A. das Angebot der sowjetischen Regierung an, in der UdSSR ein technisch-physikalisches Forschungsinstitut aufzubauen und zu leiten. Nach dem Abwurf der amerikanischen Atombomben auf die japanischen Städte
Hiroshima und
Nagasaki entschloss sich Stalin, die nukleare Rüstung mit allen nur denkbaren Mitteln voranzutreiben. Das von A. aufzubauende Institut wurde in das Atombombenprojekt eingebunden. Es erhielt den Auftrag, ein elektromagnetisches Verfahren zur industriellen Trennung von Uran-Isotopen zu entwickeln. Darüber hinaus konstruierte A. 1948 die Duoplasmatron-Ionenquelle für den Einsatz in großen Teilchenbeschleunigern und in kosmischen Raketen mit Ionenantrieb. Letztere wurden allerdings von den Raumfahrtnationen des 20. Jahrhunderts nicht gebaut. – 1955 endete der Aufenthalt in der UdSSR und A. gründete in Dresden das einzige private Forschungsinstitut der DDR, in dem 1989 etwa 500 Mitarbeiter beschäftigt waren. Hier ging 1959 ein Elektronenstrahl-Mehrkammerofen in Betrieb, mit dem Stahlblöcke von einem Gewicht bis zu 20 Tonnen geschmolzen und veredelt werden konnten. 1963 folgte die Erfindung des Plasmafeinstrahlbrenners mit Hochdrucklichtbogen zum Schneiden extrem spröder Werkstoffe. Mit der Entwicklung von Anlagen zum Aufdampfen dünner Schichten im Hochvakuum endete 1965 die Phase der Dominanz technisch-physikalischer Interessen. Fortan galt sein Engagement v.a. der Krebsforschung. A. entwickelte gegen teilweise heftigen Widerstand aus Kreisen der „Schulmedizin“ und unter großen finanziellen Opfern der gesamten Familie die sog. „systemische Krebs-Mehrschritt-Therapie“, deren grundlegendes Prinzip in einer Kombination von extremer Ganzkörperhyperthermie und induzierter Hyperglykämie besteht. Die Therapie wurde zwischen 1991 und 2000 in einer eigenen Klinik erprobt. Im Rahmen der medizinischen Forschungen entstand 1977 die nach A. benannte Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie zur Anhebung der in höherem Lebensalter stark absinkenden Leistungsreserven des menschlichen Körpers. Die Sauerstoff-Mehrschritt-Immunstimulation zur Bekämpfung der Metastasierung des Krebses und der Prävention von Krankheiten ergänzt seit 1982/83 das Spektrum der Therapien bei Krebserkrankungen. – In der DDR garantierten belastbare Beziehungen zu den drei Säulen der aus Staatspartei (SED), Staatsapparat und Staatssicherheit (MfS) bestehenden Führungstrias sowie taktisches Geschick den Aufstieg einer der Ausnahmeerscheinungen in der deutschen Wissenschaftsgeschichte zum privilegierten und einflussreichen Spitzenwissenschaftler und Institutsleiter, dem es auch gelang, allen Enteignungsversuchen der SED zu entgehen. Angesichts der Schrecken des Zweiten Weltkriegs, v.a. aber durch den Einsatz der Atombombe erschüttert und sich der besonderen Verantwortung als Physiker bewusst, versuchte A. von Dresden aus, Einfluss auf wissenschaftspolitische Entscheidungen zu nehmen, und trat mit Äußerungen zu existenziellen Fragen der Menschheit immer wieder auch als Mahner öffentlich in Erscheinung. Warnungen vor dem Inferno eines Atomkriegs in den 1950er-Jahren und eine Studie „Sternenkrieg“ als Reaktion auf das SDI-Projekt der USA im Jahr 1985 seien hier genannt. Als Abgeordneter der Volkskammer (1963-1989) trat er kaum in Erscheinung. In den 1950er- und 1960er-Jahren empfand er durchaus Sympathien für die grundlegenden Ideen und politischen Absichtserklärungen der kommunistischen Regime. Mangelnde Effizienz und die Innovationsschwäche der Zentralplanwirtschaft sowie die Unfähigkeit zu Reformen führten in den 1970er-Jahren zur inneren Abkehr vom Gesellschaftsmodell des „real existierenden Sozialismus in den Farben der DDR“. Im Herbst 1989 forderte A. auch öffentlich radikale Veränderungen in der Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft. Seine Gratwanderung zwischen Anpassung an die Macht und Instrumentalisierung der Mächtigen ermöglichte es ihm zudem, Angehörige und Mitarbeiter vor totalitärer Willkür zu bewahren. Nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit teilte A. sein Forschungsinstitut in drei rechtlich selbstständige Unternehmen auf (Von Ardenne Anlagentechnik GmbH, Von Ardenne Institut für Angewandte Medizinische Forschung GmbH, Forschungsinstitut von Ardenne OHG). Die Anlagentechnik entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zu einem auch international erfolgreichen mittelständischen Unternehmen. – A. veröffentlichte mehr als 30 Bücher, darunter die zu Klassikern gewordenen zweibändigen Tabellenbücher zur Elektronenphysik, Ionenphysik und Übermikroskopie sowie die „Tabellen zur angewandten Kernphysik“. Fast 700 Aufsätze in nationalen und internationalen Fachzeitschriften erschienen unter seinem Namen als alleiniger bzw. Koautor. Die Zahl der Patente beträgt etwa 600. Die Hoffnung, für eine seiner bedeutenden Entdeckungen und Erfindungen mit dem Nobelpreis geehrt zu werden, erfüllte sich nicht. Doch wurden A. zwischen 1941 (Silberne Leibniz-Medaille) und 1993 (Colani Design France Preis) in bemerkenswerter Kontinuität Ehrungen zuteil. Er erhielt hohe staatliche Auszeichnungen (u.a. Stalinpreis der UdSSR 1953, Nationalpreis erster Klasse der DDR 1958, zweiter Klasse 1965). Nationale und internationale wissenschaftliche Gesellschaften trugen ihm die Mitgliedschaft an (Internationale Astronautische Akademie Paris 1965, Gesellschaft für Ultraschalltechnik 1983, Ärztegesellschaft für Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie 1984) und verliehen ihm Preise und Medaillen (Wilhelm-Ostwald-Medaille der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 1986, Richard-Theile-Medaille der Deutschen Fernsehtechnischen Gesellschaft 1986, Medaille für Kunst und Wissenschaft des Senats der Stadt
Hamburg 1987, Ernst-Krokowski-Preis der Gesellschaft für biologische Krebsabwehr 1987). Mehrere Universitäten der DDR verliehen ihm die Ehrendoktorwürde (Dr. rer. nat. h.c. der Universität
Greifswald 1958, Dr. med. h.c. der Medizinischen Akademie Dresden 1978, Dr. paed. h.c. der Pädagogischen Hochschule Dresden 1982). Regierungen beriefen ihn in wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Beratungsgremien (u.a. Reichsforschungsrat 1945, Forschungsrat der DDR 1957). Die Stadt Dresden ernannte ihn 1989 zu ihrem Ehrenbürger. Seit 2002 vergibt die Europäische Forschungsgesellschaft Dünne Schichten e.V. den Manfred-von-A.-Preis für angewandte Physik, mit dem die Verbindung hervorragender wissenschaftlicher Arbeiten mit deren praktischer Umsetzung gewürdigt wird.
Quellen Bundesarchiv, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Nachlass A.
Werke Funk-Ruf-Buch, Berlin 1924; Mehrfachröhren-Empfänger, Berlin 1929; Funkempfangstechnik, Berlin 1930; Fernsehempfang, Berlin 1935 (Television reception, London 1936); Elektronen-Übermikroskopie, Berlin 1940 (1941 auch in der UdSSR, USA und Japan erschienen); Die physikalischen Grundlagen der Anwendung radioaktiver oder stabiler Isotope als Indikatoren, Berlin 1944 (1948 auch in der UdSSR erschienen); Tabellen zur angewandten Kernphysik, Berlin 1956; Tabellen zur angewandten Physik, 2 Bde., Berlin 1962-1964; Theoretische und experimentelle Grundlagen der Krebs-Mehrschritt-Therapie, Berlin 1967; Ein glückliches Leben für Forschung und Technik, Berlin 1972, München/Zürich 1972; Physiologische und technische Grundlagen der Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie, Stuttgart 1978; Systemische Krebs-Mehrschritt-Therapie, Stuttgart 1997; Erinnerungen fortgeschrieben. Ein Forscherleben im Jahrhundert des Wandels der Wissenschaften und der politischen Systeme, Düsseldorf 1997.
Literatur G. Barkleit, Der Verstaatlichung entgangen, in: Deutschland Archiv 4/2002, S. 606-617; ders., Selbstverwirklichung in Weltanschauungsdiktaturen – der Erfinder, Wissenschaftler und Unternehmer Manfred von A., in: Religion – Staat – Gesellschaft 1/2003, S. 57-74. – DBA II, III; DBE, CD-ROM, 2001; NDB 18, S. 600.
Porträt Porträt Manfred von A., 1930, Fotografie, Bundesarchiv Berlin, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst - Zentralbild (Bildquelle) [CC BY-SA 3.0 DE; dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons 3.0 Deutschland Lizenz]; Porträt Manfred von A., G. Lepke, 1980/81, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister; Porträt Manfred von A., Ch. Wetzel, 1984, Privatbesitz der Familie von Ardenne, Dresden.
Gerhard Barkleit
30.7.2004
Empfohlene Zitierweise:
Gerhard Barkleit, Artikel: Manfred von Ardenne,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/229 [Zugriff 23.11.2024].
Manfred von Ardenne
Quellen Bundesarchiv, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Nachlass A.
Werke Funk-Ruf-Buch, Berlin 1924; Mehrfachröhren-Empfänger, Berlin 1929; Funkempfangstechnik, Berlin 1930; Fernsehempfang, Berlin 1935 (Television reception, London 1936); Elektronen-Übermikroskopie, Berlin 1940 (1941 auch in der UdSSR, USA und Japan erschienen); Die physikalischen Grundlagen der Anwendung radioaktiver oder stabiler Isotope als Indikatoren, Berlin 1944 (1948 auch in der UdSSR erschienen); Tabellen zur angewandten Kernphysik, Berlin 1956; Tabellen zur angewandten Physik, 2 Bde., Berlin 1962-1964; Theoretische und experimentelle Grundlagen der Krebs-Mehrschritt-Therapie, Berlin 1967; Ein glückliches Leben für Forschung und Technik, Berlin 1972, München/Zürich 1972; Physiologische und technische Grundlagen der Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie, Stuttgart 1978; Systemische Krebs-Mehrschritt-Therapie, Stuttgart 1997; Erinnerungen fortgeschrieben. Ein Forscherleben im Jahrhundert des Wandels der Wissenschaften und der politischen Systeme, Düsseldorf 1997.
Literatur G. Barkleit, Der Verstaatlichung entgangen, in: Deutschland Archiv 4/2002, S. 606-617; ders., Selbstverwirklichung in Weltanschauungsdiktaturen – der Erfinder, Wissenschaftler und Unternehmer Manfred von A., in: Religion – Staat – Gesellschaft 1/2003, S. 57-74. – DBA II, III; DBE, CD-ROM, 2001; NDB 18, S. 600.
Porträt Porträt Manfred von A., 1930, Fotografie, Bundesarchiv Berlin, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst - Zentralbild (Bildquelle) [CC BY-SA 3.0 DE; dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons 3.0 Deutschland Lizenz]; Porträt Manfred von A., G. Lepke, 1980/81, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister; Porträt Manfred von A., Ch. Wetzel, 1984, Privatbesitz der Familie von Ardenne, Dresden.
Gerhard Barkleit
30.7.2004
Empfohlene Zitierweise:
Gerhard Barkleit, Artikel: Manfred von Ardenne,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/229 [Zugriff 23.11.2024].