Marcus Harmelin

In seiner Funktion als Rauchwarenhändler schuf Marcus Harmelin wesentliche Voraussetzungen dafür, dass das faktisch von ihm in Leipzig gegründete Unternehmen später zum weltweit geachteten Handelsplatz für Rohwaren und russische Borsten mit Millionengewinn aufsteigen konnte. 1830 gründete er die erste jüdische Rauchwarenhandlung Leipzigs und damit zugleich um ein eindrückliches Beispiel des in ökonomischer Hinsicht erfolgreichen Aufstiegs Leipziger Messejuden. – Harmelin entstammte einer Familie von Rauchwarenhändlern aus Brody (Ukraine), wo er bereits als junger Mann Erfahrungen im Handel mit Rauchwaren und „nordischen Produkten“ sammeln konnte. Etwa seit 1818 begleitete er seinen Vater zu den Leipziger Messen, wobei Hasenfelle und Schweinsborsten zu den hauptsächlich aus Brody mitgebrachten Gütern zählten. Mit dem Tod seines seit 1818 als Messmakler in Leipzig gelisteten Vaters im Frühjahr 1825 schloss Harmelin an dessen Werk an und konnte 1830 nach einer erfolgreichen Bewerbung bei den Krämern und Handlungsdeputierten in Leipzig den Posten eines Messmaklers einnehmen. Unterstützung fand er bei einer Reihe von Kaufleuten, u.a. dem Bankier und Eisenbahnpionier Wilhelm Seyfferth, die auf seine Geschäftserfahrung, Warenkenntnis und Reputation bei Einkäufern hinwiesen. Dennoch bremsten Vorwürfe, Harmelin habe Geld entwendet, seine Bestellung zunächst aus. Nach Darstellung seiner Fürsprecher handelte es sich bei der Anzeige allerdings um eine Verleumdung, wie es in einem Schriftsatz vom 16.7.1830 hieß. Drei Tage darauf konnte Harmelin dann seine Eidesleistung in der Leipziger Ratsstube mit ausgerollter Tora vollziehen. Zu den Anwesenden bei der Zeremonie gehörten u.a. der Speisewirt und Schächter Moses Frenkel sowie der Kantor der jüdischen Gemeinde Wolff Seeligmann Ulmann. Mit dem verantwortungsvollen Posten eines Messmaklers hatte Harmelin seine Bindung an Leipzig gefestigt. Dreimal jährlich reiste er zu den Messen an und besaß im Haus „Zum blauen Harnisch“ am Leipziger Brühl eigene Geschäftsräume, wo er die erste jüdische Pelzhandelsfirma etablierte. Während der Folgejahre mietete Harmelin neue Lager- und Geschäftsräume für seine Firma an, 1845 verlegte er Wohnung und Lagerstätte in die Ritterstraße. Der Hauptsitz des Unternehmens verblieb gleichwohl zunächst in Brody, während Vorbereitungen zur Übersiedlung erst 1868 begannen. Bereits 1839 war Marcus Harmelins Schwiegersohn Isaak Barbasch in das Unternehmen eingetreten und wurde später dessen Teilhaber. Um 1848 vollzog mit Joachim Garfunkel ein weiterer Schwiegersohn Harmelins den Eintritt in dessen Firma. – Harmelins Beziehung zu den Leipziger Kaufleuten galt als gut und stabil. Ein besonders enges Verhältnis unterhielt er nachweislich mit der auf Fehveredelung spezialisierten Fabrikantenfamilie Keller aus Weißenfels. Ein Mitglied dieser Familie, der Firmengründer und Freimaurer Anton Moritz Keller, widmete Harmelin 1864 sogar ein Gedicht als Zeichen der tiefen Freundschaft und Verbundenheit. Ähnlich wie Keller galt auch Harmelin als schöngeistige Person, die spätere Festschrift zum Firmenjubiläum beschreibt ihn als heiteren Familienmensch mit „liberaler Lebensauffassung“ sowie Sinn für Kunst und Kultur. Auch in ihrer Lebensweise waren die Harmelins der liberalen Strömung des Judentums zuzuordnen: Der chassidische Jude Josef Ehrlich, der als junger Mann in Brody eine Unterkunft bei ihnen gefunden hatte, berichtete, dass der Haushalt nach Meinung seiner Mutter hinreichend „jüdisch“ erschien, obgleich die Familie nach „deutschen Sitten“ leben würde. Beim rechtlich erst im Juni 1847 abgeschlossenen Entstehungsprozess der jüdischen Gemeinde in Leipzig spielten Harmelin und seine Angehörigen jedoch offenbar keine Rolle. Auch für eine Integration der Familie in städtische Eliten oder ein angestrebtes Bürgerrecht Harmelins in Leipzig liegt keinerlei Nachweis vor, was wahrscheinlich damit zusammenhing, dass er lediglich in den Messezeiten vor Ort war. Zu Irritationen scheint es dann in den 1860er-Jahren gekommen zu sein, als die Stadt Leipzig Messmaklergebühren von Harmelin nachforderte. Dieser entgegnete am 22.4.1868, dass er bereits seit 12 bis 15 Jahren nicht mehr als Messmakler tätig sei - ein deutliches Zeichen für den Bedeutungsschwund dieses Amts im Lauf der Jahre, während Kommissionsgeschäfte und der Handel auf eigene Rechnung immer mehr dominierten. Harmelin, der mit Ausbruch des Deutsch-Deutschen Kriegs 1866 gemeinsam mit seinem Sohn Joachim Harmelin über Umwege nach Brody gegangen war, hatte die geschäftlichen Befugnisse wegen seines fortgeschrittenen Lebensalters zu diesem Zeitpunkt wohl bereits in die Hände seines Sohns bzw. seines Schwiegersohns Garfunkel gelegt. In der auf dem Brühl gelegenen Wohnung von Joachim Harmelin, der im Mai 1872 nach erfolgter Einbürgerung in Deutschland und Sachsen das Leipziger Bürgerrecht erlangte, bezog Harmelin gegen Ende seines Lebens Quartier. Hier empfing er trotz geschwächter Gesundheit noch im Oktober 1872 eine Gerichtsdeputation, um pflichtgemäß die Eintragung seiner Firma in das Handelsregister zu beantragen. Diese erfolgte am 18.10.1872. Nur einen Tag später wurde Joachim Harmelin offiziell als Mitinhaber in das Unternehmen aufgenommen, während sein betagter Vater kurze Zeit danach, wahrscheinlich zur Auflösung von Lagerbeständen, nach Brody aufbrach. In seiner Geburtsstadt, die das Prestige eines Warenumschlagplatzes v.a. durch das expandierte Eisenbahnnetz verloren hatte, verstarb Harmelin Anfang 1873, ohne noch einmal nach Leipzig zurückzukehren. Der dort von ihm aufgebaute Betrieb sollte bis zur Zwangsauflösung durch das NS-Regime noch jahrzehntelang fortbestehen und unter den nächsten Inhabergenerationen seine wirtschaftliche Blütezeit erleben.

Quellen Stadtarchiv Leipzig, 0008 Ratstube, II. Sektion M/1353; Adressbücher Leipzig 1834-1874.

Literatur Josef R. Ehrlich, Der Weg meines Lebens. Erinnerungen eines ehemaligen Chassiden, Wien 1875; Wilhelm Harmelin, Marcus Harmelin Rauchwaren und Borstenkommission Leipzig 1830-1930, Leipzig 1930; ders., Juden in der Leipziger Rauchwarenwirtschaft, in: Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 11/1966, H. 6, S. 249-282; Adolf Diamant, Chronik der Juden in Leipzig. Aufstieg, Vernichtung und Neuanfang, Chemnitz/Leipzig 1993; Walter Fellmann, Juden vom Brühl: Ariowitsch, Eitingon, Harmelin, Fränkel und Weiss, in: Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig, hrsg. von der Ephraim Carlebach Stiftung, Leipzig 1994, S. 268-276; Rosemary Harmelin Preiskel, Seßhaft am Brühl. Die Harmelins. Eine Kaufmannsfamilie in zwei Jahrhunderten, in: Leipziger Blätter 31/1997, S. 41-45; Josef Reinhold, Vom Meßmakler zum etablierten Kaufmann, in: Hartmut Zwahr/Thomas Topfstedt/Günter Bentele (Hg.), Leipzigs Messen 1497-1997, Teilbd. 1, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 431-438; Börries Kuzmany, Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2011; Katrin Löffler, „Germanisierte“ contra „polnische“ Juden. Jüdisches Leben in Leipzig im 19. Jahrhundert, in: Enno Bünz/Armin Kohnle (Hg.), Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Leipzig 2013, S. 289-306; Tim Friedrich Meier, Vom Messmakler zum Pelzhändler. Zur Wirtschaftsgeschichte der Leipziger Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Dubnow-Instituts 17/2018, S. 601-628; Katrin Löffler, Leipzigs alter jüdischer Friedhof im Johannistal, Leipzig 2022.

Porträt Marcus Harmelin, Gemälde, in: Marcus Harmelin, Rauchwaren und Borstenkommission Leipzig. 1830-1930; zum hundertjährigen Bestehen, [Leipzig] 1930, S. 3, via Wikimedia Commons (Bildquelle) [Public Domain Mark 1.0; dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Public Domain Mark 1.0 Lizenz].

Lucas Böhme
8.9.2025


Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Marcus Harmelin,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27885 [Zugriff 30.10.2025].

Marcus Harmelin



Quellen Stadtarchiv Leipzig, 0008 Ratstube, II. Sektion M/1353; Adressbücher Leipzig 1834-1874.

Literatur Josef R. Ehrlich, Der Weg meines Lebens. Erinnerungen eines ehemaligen Chassiden, Wien 1875; Wilhelm Harmelin, Marcus Harmelin Rauchwaren und Borstenkommission Leipzig 1830-1930, Leipzig 1930; ders., Juden in der Leipziger Rauchwarenwirtschaft, in: Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 11/1966, H. 6, S. 249-282; Adolf Diamant, Chronik der Juden in Leipzig. Aufstieg, Vernichtung und Neuanfang, Chemnitz/Leipzig 1993; Walter Fellmann, Juden vom Brühl: Ariowitsch, Eitingon, Harmelin, Fränkel und Weiss, in: Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig, hrsg. von der Ephraim Carlebach Stiftung, Leipzig 1994, S. 268-276; Rosemary Harmelin Preiskel, Seßhaft am Brühl. Die Harmelins. Eine Kaufmannsfamilie in zwei Jahrhunderten, in: Leipziger Blätter 31/1997, S. 41-45; Josef Reinhold, Vom Meßmakler zum etablierten Kaufmann, in: Hartmut Zwahr/Thomas Topfstedt/Günter Bentele (Hg.), Leipzigs Messen 1497-1997, Teilbd. 1, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 431-438; Börries Kuzmany, Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2011; Katrin Löffler, „Germanisierte“ contra „polnische“ Juden. Jüdisches Leben in Leipzig im 19. Jahrhundert, in: Enno Bünz/Armin Kohnle (Hg.), Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Leipzig 2013, S. 289-306; Tim Friedrich Meier, Vom Messmakler zum Pelzhändler. Zur Wirtschaftsgeschichte der Leipziger Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Dubnow-Instituts 17/2018, S. 601-628; Katrin Löffler, Leipzigs alter jüdischer Friedhof im Johannistal, Leipzig 2022.

Porträt Marcus Harmelin, Gemälde, in: Marcus Harmelin, Rauchwaren und Borstenkommission Leipzig. 1830-1930; zum hundertjährigen Bestehen, [Leipzig] 1930, S. 3, via Wikimedia Commons (Bildquelle) [Public Domain Mark 1.0; dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Public Domain Mark 1.0 Lizenz].

Lucas Böhme
8.9.2025


Empfohlene Zitierweise:
Lucas Böhme, Artikel: Marcus Harmelin,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27885 [Zugriff 30.10.2025].