Ernst Hartig
H., der erste Wahlrektor der Technischen Hochschule (TH) Dresden und Wegbereiter des technologischen Experiments, zählt zu jenen Wissenschaftlern, die sich mit zäher Beharrlichkeit zu einer akademischen Autorität emporarbeiten konnten. Als Spross einer kinderreichen Weberfamilie und geprägt durch gewerbliche Traditionen neigte H. frühzeitig zu einer technischen Ausbildung. Diese erwarb er nach dem Besuch der Bürgerschule 1850 bis 1854 an der Gewerbeschule in Chemnitz. Seine Lehrer im Hauptfach Mechanische Technologie waren
Karl Reinhold Brückmann und
Eduard Theodor Böttcher. Wegen guter Leistungen konnte er das Studium an der Polytechnischen Schule in Dresden im Fach Maschinenbau und Mechanische Technik für weitere zwei Jahre fortsetzen. Dort traf er auch auf Julius Ambrosius Hülße, der seinen Lebensweg als wohlwollender Lehrer und Förderer begleiten sollte. Durch Hülße und dessen Hannoveraner Kollegen
Karl Karmarsch angeregt, wandte sich H. bald dem Lehrfach Mechanische Technologie zu, das ihn fortan nicht mehr losließ. – Ein erstes Achtungszeichen setzte der 20-Jährige mit einem von ihm selbst konstruierten Dynamometer zur Messung und Aufzeichnung des Kraftbedarfs an Arbeitsmaschinen. Seine Erfindung hatte den Vorteil, im laufenden Fabrikbetrieb eingesetzt werden zu können. H.s sehr zeitgemäße experimentell-technologische Untersuchungen an Textil- und Werkzeugmaschinen sowie an Transmissionen prägten auch in der Folgezeit sein Lehr- und Forschungsgebiet, auf welchem er es zu international anerkannten wissenschaftlichen Leistungen brachte. Mit H. hielt gewissermaßen die Messtechnik Einzug in den Produktionsbetrieb. Auf der Grundlage des Hartigschen Dynamometers wurden in vielen Industriezweigen wegweisende Leistungsuntersuchungen angestellt. Der Nutzen lag v.a. in der Rückwirkung auf die Optimierung der Maschinenkonstruktion und Anlagenprojektierung, aber auch auf den effizienten Einsatz von Maschinen bei unterschiedlichen technologischen Randbedingungen. Dies entsprach den elementaren wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen. 1859/60 war H. als Konstrukteur und Technologe in der führenden Chemnitzer Maschinenfabrik Richard Hartmann tätig, wo u.a. sein selbstregistrierendes Rotationsdynamometer hergestellt wurde. Ein Jahr später erweiterte er an der Universität Leipzig seine Kenntnisse auf naturwissenschaftlichem und allgemeinwissenschaftlichem Gebiet und wurde dort 1863 zum Dr. phil. promoviert. Daneben war er Assistent bei Hülße und konnte in dieser Tätigkeit seine Lehrerfahrungen erweitern. Eine Studienreise mit seinem Lehrer zur Weltausstellung 1862 nach London machte ihn mit dem internationalen Stand der Entwicklungen auf dem Gebiet der mechanischen Technik bekannt. Zum Oberlehrer an der Polytechnischen Schule zu Dresden aufgestiegen, nahm er mit Studenten experimentelle Untersuchungen in 50 Betrieben der Streichgarnspinnerei und Tuchfabrikation vor, was damals eine Neuheit war. 1865 wurde H. zum Professor für Mechanische Technologie am Dresdner Polytechnikums berufen, ein Fach, das er gemeinsam mit Hülße zu großem Ansehen ausbaute. Über die Grenzen des Polytechnikums hinaus wirkte H. im Sächsischen Ingenieur- und Architektenverein, in der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS, als Jurymitglied bei Ausstellungen, als Herausgeber der Zeitschrift „Civilingenieur“, als nichtständiges Mitglied des Reichspatentamts sowie in der Technischen Deputation, einem Beratergremium der sächsischen Regierung. Auch an der Reorganisation seiner Bildungseinrichtung und ihrem Aufstieg zur Hochschule nahm er regen Anteil. Mit der Einführung neuer Lehrinhalte wie Kinematik, Baumaschinen, Dynamometer, Patentwesen, Bautechnologie u.a. reagierte H. auf die drängenden Erfordernisse der maschinellen Großproduktion. Durch die Mechanisch-Technologische Sammlung erhielt der Unterricht eine zeitgemäße Anschauungskraft. Hinsichtlich seiner Forschungstätigkeit sind die Beiträge auf den Gebieten Textil-, Bau- und Papiertechnologie sowie der entsprechenden Werkstoffprüfung besonders hervorzuheben. Er verfasste zudem eine bemerkenswerte Arbeit über das Patentwesen. Sein unverstellter Blick auf die moderne Technik sowie seine philosophischen Ambitionen ließen ihn tief in die Systemzusammenhänge der Technik seiner Zeit eindringen. H.s sog. „Gesetz vom Gebrauchswechsel des Werkzeuges“ aus dem Jahr 1872 ist Ausdruck dieses übergreifenden Herangehens. Mit seinem von ökonomischem Denken geprägten technischen Sachverstand stieß er weit in das Feld der späteren Betriebswissenschaften vor, welche im Zuge der Rationalisierungsbestrebungen der Industrie nach dem Ersten Weltkrieg zu einer wichtigen Säule des wissenschaftlichen Maschinenwesens werden sollten. H.s außerordentliche Reputation - er wurde mehrfach zum Vorstand der Mechanischen Abteilung gewählt - trug ihm 1890 als Nachfolger von Gustav Zeuner das Amt des ersten Wahlrektors der in den Rang einer Technischen Hochschule erhobenen Bildungsanstalt ein. Dies war der Höhepunkt in seinem vielfältigen Schaffen. Als Rektor und später als Prorektor förderte H. v.a. die „jungen“ technikwissenschaftlichen Disziplinen wie Elektrotechnik und Technische Chemie und setzte sich für die Verleihung des Promotionsrechts an technischen Hochschulen ein. Die von ihm begründete technologische Schule, der u.a.
Ernst Müller,
Hugo Fischer,
Rudolf Escher und
Detlef Reusch angehörten, führte ein neues Modell der Fabrikingenieurausbildung ein, das von Experimenten in der Industrie und Laborpraktika geprägt war. Als Vorstandsmitglied im „Deutschen Verband für die Materialprüfung in der Technik“ setzte er sich für einheitliche Untersuchungsmethoden im internationalen Rahmen ein. Schließlich trug er als sächsischer Patentexperte wesentlich zu einer einheitlichen Reichspatentgesetzgebung bei. Auch hier half ihm sein fachübergreifender Blick bei der Lösung komplizierter Definitionsfragen. Der zum führenden Technologen im deutschsprachigen Raum aufgerückte H. starb unerwartet an einem Gehirnschlag.
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, Ministerium für Volksbildung, Nr. 15375, Akte Regierungsrat Prof. Dr. Ernst H. am Polytechnikum zu Dresden.
Werke Versuche über den Kraftbedarf der Maschinen in der Streichgarnspinnerei und Tuchfabrikation, Leipzig 1864; Die Dampfkessel-Explosionen, Leipzig 1867; Versuche über den Kraftbedarf der Maschinen in der Flachs- und Wergspinnerei, Leipzig 1869; Versuche über Leistung und Arbeitsverbrauch der Werkzeugmaschinen, Leipzig 1873; (Hg.), Handbuch der mechanischen Technologie, Hannover 51875; Studien in der Praxis des kaiserlichen Patentamtes, Berlin 1890.
Literatur S. H. Richter, Ernst H. (1836-1900), in: Bedeutende Gelehrte der Technischen Universität Dresden, hrsg. von S. H. Richter/M. Ruhnow/R. Sonnemann, Bd. 1, Dresden 1989, S. 7-41. – G. Buchheim/R. Sonnenmann (Hg.), Lebensbilder von Ingenieurwissenschaftlern, Leipzig 1989, S. 60-70; D. Petschel (Bearb.), Die Professoren der TU Dresden 1828-2003, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 323-325.
Porträt Porträtfotografien im Visitformat, H. Krone, 1859, Krone-Sammlung der Technischen Universität Dresden; Porträtfotografien, W. Höffert, um 1890, Technische Universität Dresden, Kustodie (Bildquelle).
Klaus Mauersberger
18.10.2005
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Mauersberger, Artikel: Ernst Hartig,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1944 [Zugriff 20.12.2024].
Ernst Hartig
Quellen Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, Ministerium für Volksbildung, Nr. 15375, Akte Regierungsrat Prof. Dr. Ernst H. am Polytechnikum zu Dresden.
Werke Versuche über den Kraftbedarf der Maschinen in der Streichgarnspinnerei und Tuchfabrikation, Leipzig 1864; Die Dampfkessel-Explosionen, Leipzig 1867; Versuche über den Kraftbedarf der Maschinen in der Flachs- und Wergspinnerei, Leipzig 1869; Versuche über Leistung und Arbeitsverbrauch der Werkzeugmaschinen, Leipzig 1873; (Hg.), Handbuch der mechanischen Technologie, Hannover 51875; Studien in der Praxis des kaiserlichen Patentamtes, Berlin 1890.
Literatur S. H. Richter, Ernst H. (1836-1900), in: Bedeutende Gelehrte der Technischen Universität Dresden, hrsg. von S. H. Richter/M. Ruhnow/R. Sonnemann, Bd. 1, Dresden 1989, S. 7-41. – G. Buchheim/R. Sonnenmann (Hg.), Lebensbilder von Ingenieurwissenschaftlern, Leipzig 1989, S. 60-70; D. Petschel (Bearb.), Die Professoren der TU Dresden 1828-2003, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 323-325.
Porträt Porträtfotografien im Visitformat, H. Krone, 1859, Krone-Sammlung der Technischen Universität Dresden; Porträtfotografien, W. Höffert, um 1890, Technische Universität Dresden, Kustodie (Bildquelle).
Klaus Mauersberger
18.10.2005
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Mauersberger, Artikel: Ernst Hartig,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/1944 [Zugriff 20.12.2024].