Gustav Schulze

S. gehörte zu jenen deutschen Wissenschaftlern, die schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs mit wissenschaftlichen Pionierleistungen hervortraten und deren weiterer Werdegang durch sowjetische Internierung und anschließende Rückkehr in die DDR eine besondere Prägung erfahren hat. – Nach dem Besuch der Volksschule und des Reformrealgymnasiums Königs Wusterhausen legte S. 1929 das Abitur ab und begann im gleichen Jahr ein Studium der Physik an der Universität Berlin. Dieses setzte er dann in Göttingen fort, wo er ab Wintersemester 1931/32 im Mineralogisch-Petrografischen Institut der Universität kristallografische Arbeitsverfahren erlernte und damit die Weichen für sein weiteres wissenschaftliches Arbeitsgebiet stellen sollte. Unter Leitung des Kristallchemikers Victor Moritz Goldschmidt promovierte er hier 1933 mit einer Untersuchung über „Die Kristallstruktur von BPO4 und BAsO4“, die als beste Arbeit dieses Jahrgangs ausgezeichnet wurde. Es war nicht nur seine ausgefeilte Technik der noch jungen Methode der Röntgenkristallstrukturanalyse, die Anerkennung fand, sondern auch seine „ungewöhnliche Veranlagung“ (Goldschmidt), Kristallstrukturen untereinander in Beziehung zu setzen. In Göttingen hörte er auch Vorlesungen bei Max Born und fand so Zugang zur Kristallphysik. Ein zweiter prägender Einfluss auf sein wissenschaftliches Profil ging vom Radiochemiker und späteren Nobelpreisträger Otto Hahn aus, unter dessen Leitung er im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem vom 1.9.1934 bis 31.8.1935 als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Debye-Scherrer-Methode zur Strukturcharakterisierung einführte. Als Assistent bei Friedrich Krüger befasste er sich zudem an der Universität Greifswald 1935 bis 1938 mit magnetischen Eigenschaften fester Körper, bevor er in Ulrich Dehlinger am Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung Stuttgart einem Theoretischen Physiker begegnete, der für seine weitere Entwicklung von nachhaltigem Einfluss war. Im Rahmen eines Forschungsstipendiums fertigte S. dort im Zeitraum vom 1.3.1938 bis 31.10.1939 eine Arbeit „Zur Kristallchemie der intermetallischen AB2-Verbindungen (Laves-Phasen)“ an, die - als Habilitationsschrift von der Technischen Hochschule (TH) Stuttgart anerkannt - seine Karriere als Hochschullehrer begründete. Bei der Suche nach einem stabilisierenden Beitrag zur Bindung, der die offenbar fehlende Ionenbindung zwischen den metallischen Komponenten A und B ersetzte und die charakteristische Zusammensetzung AB2 bedingte, stieß er auf einen starken Bindungsanteil zwischen gleichartigen Atomen proportional zur mittleren Koordinationszahl von A und B und wies die Bedeutung ihres hohen Werts, der „überhöhten Koordinationszahl“ 13,3 > 12 für die Bildung der Laves-Phasen nach. – Mit dem Wechsel an die TH Dresden am 1.11.1939 begann S. eine überaus fruchtbare Lehr- und Forschungstätigkeit, die - nur von der Nachkriegszwangspause unterbrochen - erst mit seinem Tod 1974 ein Ende finden sollte. Der Verlust eines Auges in früher Jugend bewahrte ihn vor dem Kriegsdienst. Über die Stationen Dozentur für Experimentalphysik (6.4.1940) und Oberingenieur (1.10.1941) wurden ihm umfangreiche Lehraufgaben einschließlich der Leitung der Physikalischen Praktika übertragen. Im von Herbert Stuart geleiteten Institut stand die Strukturaufklärung von Hochpolymeren im Mittelpunkt der Forschung. – Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 griff in S.s Lebenslauf auf mehrfache Weise ein. Dazu zählten Bombenschäden am Gebäude des Physikalischen Instituts und der eigenen Wohnung (13.2.) ebenso wie die Schließung der TH (20.4.1945-17.10.1946) und die unfreiwillige Organisation des Abtransports von Geräten der TH durch die Rote Armee in Vertretung des abwesenden Stuart (6.7.-14.11.). Hinzu kam die Entlassung aus dem Öffentlichen Dienst wegen der Mitgliedschaft S.s in der NSDAP (15.11.) trotz entlastender Zeugnisse von Enno Heidebroek und Adolf Willers. Anfang 1946 fand S. eine Anstellung bei der Junkers Motorenbau GmbH Dessau. Zusammen mit rund 2.000 anderen Firmenmitarbeitern (einschließlich Familienangehörigen) wurde er am 22.10.1946 in ein sowjetisches Internierungslager nahe Kuibyschew (heute Samara, Russland) und später nach Savelovo (Russland) gebracht, wo er als Leiter der thermodynamischen Abteilung an der Entwicklung von Flugzeugtriebwerken mitwirken musste. – Nach der Entlassung aus der UdSSR im Juli 1954 bewarb sich S. erfolgreich um eine Professur an der TH Dresden, wohin er mit Wirkung vom 1.12.1954 berufen wurde. Er trat hier die Nachfolge von Gebhardt Wiedmann als Direktor des Instituts für Röntgenkunde an und konnte bald sein engeres Forschungsgebiet Metallphysik auch förmlich in der Bezeichnung des Instituts und des Berufungsgebiets etablieren. S. erweiterte die Arbeiten über Laves-Phasen einerseits durch Verallgemeinerungen zur Kristallchemie (Prinzip größter Dichte) und andererseits durch Zurückführung der Sprödigkeit dieser Verbindungen auf den Peierls-Mechanismus. Durch Nutzung der Neutronenquelle des Reaktors Rossendorf gelangen frühe, international beachtete Beiträge zur magnetischen Struktur und Textur fester Körper sowie zur anomalen Absorption von Neutronen im fast perfekten Kristall. Als Leiter der Unterkommission Metallphysik der Deutschen Akademie der Wissenschaften konnte S. wesentlichen Einfluss auf die überregionale wissenschaftliche Entwicklung dieses Gebiets in der DDR nehmen. Die Sächsische Akademie der Wissenschaften sicherte sich seine Expertise 1960 durch die Wahl zu ihrem Mitglied. Als Dekan der Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften (1958-1961 und 1967/68) und als Vorstand der Abteilung Mathematik/Physik (1962-1968) beteiligte er sich an der akademischen Selbstverwaltung der TH/Technischen Universität Dresden bis zur dritten Hochschulreform 1968/69, mit der die bisherigen Institutsstrukturen und Ordinarien aufgelöst und der Einfluss der SED auf die Hochschulpolitik verstärkt wurde. Zusätzlich übernahm S. die kommissarische Leitung des Instituts für Mineralogie und Geologie (1961-1963 und 1965/66). Seine umfangreiche Lehrtätigkeit fand Niederschlag in den Lehrbriefen zur „Physik der Röntgenstrahlen“ und dem Lehrbuch „Metallphysik“. Wegen des sich ab 1973 verschlechternden Gesundheitszustands wurde S. am 15.5.1974 nach Invalidisierung als Professor abberufen. Er verstarb an den Folgen eines Herzinfarkts in Dresden.

Quellen Technische Universität Dresden, Universitätsarchiv; Auskunft D. Schulze, H. Scharf, geb. Schulze.

Werke Zur Kristallchemie der intermetallischen AB2-Verbindungen (Laves-Phasen), in: Zeitschrift für Elektrochemie 45/1939, S. 849-865; Physik der Röntgenstrahlen, 4 Bde., Dresden 1956/57 (ND 1957-1962); Geometrische Prinzipien beim Gitterbau intermetallischer Verbindungen, Berlin 1963; Metallphysik. Ein Lehrbuch, Berlin 1967 (ND Wien/New York 1974); Metallofizika [Metallphysik], Moskau 1971; Die plastische Verformung „spröder“ intermetallischer Verbindungen und ihre Elementarprozesse, Berlin 1972; Zur Rolle des Einfachheitsprinzips im physikalischen Weltbild, Berlin 1974; Beiträge zur Entwicklung der Metallphysik, Berlin 1977.

Literatur P. Paufler u.a.,16 Jahre Metallphysik in Lehre und Forschung unter Leitung von Prof. Dr. phil. habil. Gustav E. R. S., in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 20/1971, S. 381-385; ders./A. Lösche, Gustav E. R. S., in: Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Jahrbuch 1973/74, S. 274-283 (WV); D. Schulze, Gustav Ernst Robert S., in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 40/1991, S. 65-68; D. Leuschner, Wacher Geist für natürlich Schönes, in: Die Union 23./24.2.1991, S. 16; P. Paufler, S. - Wegbereiter der Festkörperforschung, in: Dresdner Neueste Nachrichten 1.2.2011, S. 7; ders., Gustav Ernst Robert S. Metallphysiker, Kristallchemiker, Hochschullehrer, Leipzig 2013.

Porträt Gustav Ernst Robert S., Fotografie, Technische Universität Dresden, Universitätsarchiv, Fotoarchiv (Bildquelle).

Peter Paufler
9.2.2017


Empfohlene Zitierweise:
Peter Paufler, Artikel: Gustav Schulze,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/17935 [Zugriff 22.11.2024].

Gustav Schulze



Quellen Technische Universität Dresden, Universitätsarchiv; Auskunft D. Schulze, H. Scharf, geb. Schulze.

Werke Zur Kristallchemie der intermetallischen AB2-Verbindungen (Laves-Phasen), in: Zeitschrift für Elektrochemie 45/1939, S. 849-865; Physik der Röntgenstrahlen, 4 Bde., Dresden 1956/57 (ND 1957-1962); Geometrische Prinzipien beim Gitterbau intermetallischer Verbindungen, Berlin 1963; Metallphysik. Ein Lehrbuch, Berlin 1967 (ND Wien/New York 1974); Metallofizika [Metallphysik], Moskau 1971; Die plastische Verformung „spröder“ intermetallischer Verbindungen und ihre Elementarprozesse, Berlin 1972; Zur Rolle des Einfachheitsprinzips im physikalischen Weltbild, Berlin 1974; Beiträge zur Entwicklung der Metallphysik, Berlin 1977.

Literatur P. Paufler u.a.,16 Jahre Metallphysik in Lehre und Forschung unter Leitung von Prof. Dr. phil. habil. Gustav E. R. S., in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 20/1971, S. 381-385; ders./A. Lösche, Gustav E. R. S., in: Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Jahrbuch 1973/74, S. 274-283 (WV); D. Schulze, Gustav Ernst Robert S., in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 40/1991, S. 65-68; D. Leuschner, Wacher Geist für natürlich Schönes, in: Die Union 23./24.2.1991, S. 16; P. Paufler, S. - Wegbereiter der Festkörperforschung, in: Dresdner Neueste Nachrichten 1.2.2011, S. 7; ders., Gustav Ernst Robert S. Metallphysiker, Kristallchemiker, Hochschullehrer, Leipzig 2013.

Porträt Gustav Ernst Robert S., Fotografie, Technische Universität Dresden, Universitätsarchiv, Fotoarchiv (Bildquelle).

Peter Paufler
9.2.2017


Empfohlene Zitierweise:
Peter Paufler, Artikel: Gustav Schulze,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/17935 [Zugriff 22.11.2024].