Walter Markov
Der Leipziger Historiker M. zählt zu den wenigen herausragenden und international bekannten Vertretern seines Fachs in der DDR. Sein nach Karl Lamprecht entwickeltes, absolutes Verhältnis zur Historiografie, wonach Geschichte entweder total oder keine Geschichte sei, bewahrte M. zeitlebens davor, zu jenen getreuen Akademikern zu gehören, die jeden Kurswechsel der SED mittrugen. Diese Gradlinigkeit löste jedoch diverse Konflikte mit der Staatsführung aus. Zugleich widersetzte sich M. einer eurozentristischen Geschichtsbetrachtung und schlug Brücken der wissenschaftlichen Kooperation nicht nur zwischen Ost- und Westeuropa, sondern auch zur amerikanischen, asiatischen und afrikanischen Historiografie: 1961 wurde M. erster Präsident der „Deutsch-Afrikanischen Gesellschaft“ der DDR und war 1962/63 Ordinarius in Nusaka (Nigeria). – Nach der Kindheit in Jugoslawien und Österreich folgten Studien u.a. der Geschichte, Geografie, Philosophie, Theologie, Slawistik und Orientalistik in Leipzig, Köln, Hamburg, Berlin und Bonn, wo M. 1934 bei Fritz Kern über „Serbien zwischen Österreich und Rußland 1897-1908“ promovierte. Im selben Jahr trat er in die bereits illegale KPD ein. Wegen seines Engagements als Gegner des NS-Regimes und der Gründung einer Widerstandsgruppe, die die illegale Zeitschrift „Sozialistische Republik“ herausgab, wurde der wissenschaftliche Assistent der Universität Bonn 1934 bis 1945 in Siegburg inhaftiert, davon acht Jahre in Einzelhaft. 1946 siedelte M. von Bonn nach Leipzig über, wo er sich 1947 mit einer Arbeit über „Grundzüge der Balkandiplomatie. Ein Beitrag zur Geschichte der Abhängigkeitsverhältnisse“ habilitierte. Ab 1947 zunächst Professor in Halle, erfolgte 1949 die Berufung auf den Leipziger Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuzeit. M. wurde Direktor des traditionsreichen, von Lamprecht begründeten Instituts für Kultur- und Universalgeschichte bzw. bis 1968 Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte. Daneben war er von 1951 bis 1958 kommissarischer Direktor des Instituts für die Geschichte der Völker der UdSSR (später für die Geschichte der europäischen Volksdemokratien) sowie 1960 bis 1966 Leiter des Forschungszentrums zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. – Eine tiefe Zäsur bedeutete für M. der Parteiausschluss im Januar 1951, als ihm die SED-Leitung abstruserweise „Titoismus“ und „Objektivismus“ vorwarf. M. wurde damit gezwungen, sein hauptsächliches Forschungsfeld, den Balkan, zurückzustellen. Er wandte sich stattdessen der Untersuchung des Vierten Stands im Frankreich des 18. Jahrhunderts zu. Damit legte er den Grundstein für die Erforschung der äußersten Linken in der Französischen Revolution. Zu seinen in Ost und West geschätzten Hauptwerken zählen bis heute die Publikationen über den Wortführer der Volksbewegung, den Armenpriester
Jacques Roux. Sein Opus Magnum wurde die vierbändige Roux-Biografie, die 1967 bis 1970 erschien. Statt einer Fortschreibung der Geschichte der Herrschenden wandte sich der Revolutionshistoriker M. damit der „Geschichte von unten“ zu. Er sah zudem die Entwicklung der Länder Südosteuropas unter dem Gesichtspunkt der Großmachtinteressen des Westens und des Ostens; das Ende des Kolonialismus betrachtete er aus dem Blickwinkel der Befreiungsbestrebungen der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Mit der Begründung der Leipziger Schule der vergleichenden, marxistisch orientierten Revolutionsgeschichtsschreibung wirkte M. stilbildend. In den 1980er-Jahren entstanden weitere Hauptwerke wie die „Schlachten der Weltgeschichte“ (1977) und die „Weltgeschichte im Revolutionsquadrat“ (1979), die bis heute nachwirken. M. prägte zusammen mit Ernst Bloch, Hans Mayer und Werner Krauss das geistige Klima Leipzigs in den 1950er-Jahren und gestaltete zugleich bis in die 1970er-Jahre hinein - trotz zeitweiliger Gängelung durch die SED - die Geschicke der Leipziger Historischen Institute entscheidend mit. Zudem war er 1959 Vizepräsident des Nationalkomitees der Historiker, 1960/61 Prodekan der Philosophischen Fakultät, wurde Mitglied der (Deutschen) Akademie der Wissenschaften der DDR sowie weiterer internationaler Gesellschaften. 1964 wurde er in die Sächsische Akademie der Wissenschaften aufgenommen, der er bis zu seinem Tod angehörte. Obwohl nach wie vor parteilos, repräsentierte M. die DDR im Ausland auf zahllosen wissenschaftlichen Reisen und wurde mit Auszeichnungen wie dem Nationalpreis und dem Vaterländischen Verdienstorden in Silber geehrt. Die Leipziger Universität machte ihn zum Ehrensenator, und die Akademie der Wissenschaften der DDR zeichnete ihn mit dem Friedrich-Engels-Preis aus. – 1974 wurde M. emeritiert, setzte seine Forschungen jedoch trotz schwerer Krankheit bis an sein Lebensende fort. Der kritische Marxist machte eine undogmatische Auffassung vom historischen Materialismus zum wissenschaftlichen Fundament seiner Arbeiten und wehrte sich gegen den „Zitierismus“ und „Schallplatten-Marxismus“ offizieller Lesart. Diese Offenheit für die kreative Konkurrenz wissenschaftlicher Methoden und für den internationalen Austausch jenseits einer engstirnigen Erfüllung politischer Tagesaufgaben macht das Erbe M.s aus. Seine bahnbrechenden Forschungsleistungen auf verschiedenen Gebieten der Geschichtswissenschaft trugen ihm die Anerkennung sozialistischer wie bürgerlicher Historiker und einen besonderen Platz in der DDR-Geschichtswissenschaft ein. Das Vermächtnis M.s, der mit seinem geschliffenen und eigenständigen Sprachstil dem Leser bis heute intellektuelles Vergnügen bereitet, umfasst ein Œuvre von rund 800 Publikationen in Zeitschriften wie „Die Weltbühne“, „Sinn und Form“ und der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, sowie 30 Monografien.
Quellen W. Markov, Zwiesprache mit dem Jahrhundert, dokumentiert von T. Grimm, Berlin/Weimar 1989; Universitätsarchiv Leipzig, Personalakte.
Werke Serbien zwischen Österreich und Rußland 1897-1908, Stuttgart 1934; Die Freiheiten des Priesters Roux, Berlin 1967; mit A. Soboul, 1789. Die große Revolution der Franzosen, Berlin 1973; mit H. Helmert, Schlachten der Weltgeschichte, Leipzig 1977; (Hg.), Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, Berlin 1979; Grundzüge der Balkandiplomatie, hrsg. von F. Klein/I. Markov, Leipzig 1999; „Wie viele Leben lebt der Mensch“. Eine Autobiographie aus dem Nachlass, Leipzig 2009.
Literatur M. Neuhaus/H. Seidel, „Wenn jemand bewußt seinen Kopf hinhielt…“. Beiträge zu Werk und Wirken M.s, Leipzig 1995; Walter M. (1909–1993), Leipzig 2001 (WV); S. Heitkamp, M. Ein DDR-Historiker zwischen Parteidoktrin und Profession, Leipzig 2003. – DBA II, III; DBE 6, S. 625.
Porträt Fotografie, Familienbesitz (Bildquelle).
Sven Heitkamp
23.6.2009
Empfohlene Zitierweise:
Sven Heitkamp, Artikel: Walter Markov,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9318 [Zugriff 20.12.2024].
Walter Markov
Quellen W. Markov, Zwiesprache mit dem Jahrhundert, dokumentiert von T. Grimm, Berlin/Weimar 1989; Universitätsarchiv Leipzig, Personalakte.
Werke Serbien zwischen Österreich und Rußland 1897-1908, Stuttgart 1934; Die Freiheiten des Priesters Roux, Berlin 1967; mit A. Soboul, 1789. Die große Revolution der Franzosen, Berlin 1973; mit H. Helmert, Schlachten der Weltgeschichte, Leipzig 1977; (Hg.), Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, Berlin 1979; Grundzüge der Balkandiplomatie, hrsg. von F. Klein/I. Markov, Leipzig 1999; „Wie viele Leben lebt der Mensch“. Eine Autobiographie aus dem Nachlass, Leipzig 2009.
Literatur M. Neuhaus/H. Seidel, „Wenn jemand bewußt seinen Kopf hinhielt…“. Beiträge zu Werk und Wirken M.s, Leipzig 1995; Walter M. (1909–1993), Leipzig 2001 (WV); S. Heitkamp, M. Ein DDR-Historiker zwischen Parteidoktrin und Profession, Leipzig 2003. – DBA II, III; DBE 6, S. 625.
Porträt Fotografie, Familienbesitz (Bildquelle).
Sven Heitkamp
23.6.2009
Empfohlene Zitierweise:
Sven Heitkamp, Artikel: Walter Markov,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/9318 [Zugriff 20.12.2024].