Walter Eisen

E. war Wissenschaftlicher Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Leipzig und dort in den 1950er-Jahren als hauseigener Zensor maßgeblich für die Systematisierung und Standardisierung der Sekretion politisch unerwünschter Literatur verantwortlich. – Nach dem Abitur am Humanistischen Gymnasium in Nikolaiken nahm E. 1915 das Studium der Geografie, Ethnologie, Philosophie und Psychologie in Königsberg (russ. Kaliningrad) auf, setzte dieses aber später in Leipzig, Berlin und Gießen fort. Im Kriegsjahr 1917/18 erfolgte die Einberufung an die Westfront. In den Nachkriegsjahren verdingte sich E. zeitweise als Dozent und Lehrer an verschiedenen Volkshochschulen und Grundschulen in der Provinz Sachsen. Daneben promovierte er mit einer Arbeit zur Sprachkritik Fritz Mauthners, die er 1928 erfolgreich an der Universität Gießen verteidigte. Unmittelbar an die Promotion schloss E. ein bibliothekarisches Volontariat in Halle/Saale an, das er jedoch ohne Ablegung des Fachexamens bereits 1932 beendete. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft verhinderte nach eigenen Angaben die Machtübernahme der Nationalsozialisten ein geplantes Habilitationsvorhaben. 1938/39 war E. für knapp zwei Monate im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert, konnte jedoch nach seiner Entlassung nach London übersiedeln. Hier schloss er sich deutschen Exilorganisationen wie dem „Freien Deutschen Kulturbund“, der „Freien Deutschen Hochschule“ oder der „Freien Deutschen Bewegung“ an, in deren Vorständen er bald aktiv mitwirkte. Im englischen Exil bestritt er seinen Lebensunterhalt erneut als Lehrer für Deutsch und alte Sprachen sowie durch kleinere Aufsatzveröffentlichungen. – Parteipolitisch trat E. vor 1933 nicht in Erscheinung, brachte aber zumindest tendenziell durch die seit 1922 bestehende aktive Mitgliedschaft in der „Gesellschaft der Freunde des Neuen Russlands“ (Leipzig) seine Sympathie für den Kommunismus sowjetischer Prägung zum Ausdruck. Nach seiner Rückkehr nach Leipzig, wo er am 30.10.1946 zum planmäßigen wissenschaftlichen Assistenten (seit April 1948 Oberassistenten) am Ethnologisch-Anthropologischen Institut der Universität berufen wurde, trat er in die SED ein. Neben einer frühen und engagierten Mitarbeit im „Antifaschistischen Block“, der DSF und dem FDGB besaß E. zudem die formalrechtliche Anerkennung des Status „Verfolgter des Naziregimes“. – E.s bisheriger Lebenslauf wie auch sein inzwischen dezidiertes Bekenntnis zum Sowjetkommunismus und Stalinismus prädestinierten ihn offensichtlich in den Augen der politischen Elite der noch jungen DDR nachgerade für parteiliche und ideologische Aufgaben im Universitätsbereich, wofür seine Berufung zum Zensor der Universitätsbibliothek Leipzig spricht. Im Frühjahr 1951 ergab eine politische Bestandsinspektion durch das Sächsische Ministerium für Volksbildung, dass die erneuerten Sekretionsvorgaben der russischen Behörden, die nunmehr auch westlich-demokratische bzw. sowjet- und kommunismuskritische Literatur inkriminierten, bisher an der Leipziger Universitätsbibliothek nur unzureichend erfüllt worden waren. Eine eigens geschaffene Sonderplanstelle sollte daher die nochmalige - und diesmal politisch konforme - Bestandsüberprüfung ermöglichen. Diese vom Ministerium bewilligte und später durch das Staatssekretariat für Hochschulwesen bestätigte Stelle besetzte E. zum 10.5.1951 als Wissenschaftlicher Bibliothekar ohne Fachprüfung. Mittels der „Prüfstelle zur Aussonderung untragbarer und unerwünschter Literatur“ gelang es E., die politisch motivierte Sekretion in den Beständen der Leipziger Universitätsbibliothek systematisch zu personalisieren, sodass binnen kürzester Zeit nur noch er allein zur Gesamtheit der ideologisch inkriminierten Literatur, den sog. „Giftschrank-Beständen“, auskunftsfähig war. Darüber hinaus erreichte er mit Unterstützung des Staatssekretariats, dass der Bibliotheksleitung in Sekretionsfragen ihr Mitwirkungsrecht entzogen wurde und dadurch seine bestandspolitischen Entscheidungen durch diese im Zweifel nicht mehr aufgehoben werden konnten. Spätestens seit 1952 entschied E. damit de jure und de facto in völliger Eigenverantwortung über sämtliche Benutzungsgenehmigungen zu politisch brisantem Schriftgut an der Universitätsbibliothek Leipzig. Diese überaus einflussreiche, v.a. aber autonome Position konnte E. bis Ende der 1950er-Jahre behaupten, musste dann allerdings als Zensor einen deutlichen und äußerst raschen Bedeutungsverfall akzeptieren: 1958 wurde durch das Staatssekretariat die Zusammenlegung der Prüfstelle mit der 1952 an der Universitätsbibliothek eingerichteten Gesellschaftswissenschaftlichen Beratungsstelle, der E. in Personalunion bis dahin ebenfalls vorstand, empfohlen und zum Jahreswechsel 1958/59 schließlich vollzogen. Durch diese Fusion verlor die Prüfstelle ihren seit der Gründung bestehenden Sonderplanstatus und wurde der Gesellschaftswissenschaftlichen Beratungsstelle als einer bibliotheksunmittelbaren Abteilung nachgeordnet. Gleichzeitig mit der Verschmelzung wurde E. durch die Universitätsleitung nahegelegt, auf die Leitung der Beratungsstelle zugunsten seines bisherigen Stellvertreters, des Wissenschaftlichen Bibliothekars Horst Bunke, zu verzichten. Er sollte aber formal weiterhin Leiter der nunmehr unselbstständigen Prüfstelle bleiben und in Abstimmung mit Bunke noch wenige Jahre die bestandspolitische Sekretion versorgen, bevor er zum 31.8.1962 aus Altersgründen aus den Diensten der Universitätsbibliothek ausschied. Zwar trat er zugleich wieder in eine freie wissenschaftliche Mitarbeit an der Bibliothek ein, doch es ist nicht bekannt, ob er nochmals Prüf- oder Kontrollarbeiten an den Beständen durchführte. In seinem letzten Lebensjahrzehnt widmete er sich gemeinsam mit seiner Frau der Erarbeitung einer umfangreichen Händel-Bibliografie, deren Abschluss er jedoch nicht mehr erlebte. – E.s in internen Umläufen erwähnte alphabetische und systematische Geheimkartei, die bis dahin Arbeitsgrundlage sämtlicher Sekretionstätigkeit gewesen war und heute weiteren Aufschluss über die Arbeit der Prüfstelle geben könnte, ist nicht erhalten.

Quellen Universität Leipzig, Universitätsarchiv, Personalakten; Universitätsbibliothek Leipzig, Altregistratur.

Werke Fritz Mauthners Kritik der Sprache. Eine Darstellung und Beurteilung vom Standpunkt eines kritischen Positivismus, Wien 1929; Kurt Koffka 1886-1941, in: British Journal of Psychologie 33/1942, S. 69-76; mit M. Eisen (Hg.), Händel-Handbuch, 5 Bde., Kassel u.a. 1978-1986.

Literatur DBA II.

Hassan Soilihi Mzé
5.3.2015


Empfohlene Zitierweise:
Hassan Soilihi Mzé, Artikel: Walter Eisen,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/26027 [Zugriff 19.11.2024].

Walter Eisen



Quellen Universität Leipzig, Universitätsarchiv, Personalakten; Universitätsbibliothek Leipzig, Altregistratur.

Werke Fritz Mauthners Kritik der Sprache. Eine Darstellung und Beurteilung vom Standpunkt eines kritischen Positivismus, Wien 1929; Kurt Koffka 1886-1941, in: British Journal of Psychologie 33/1942, S. 69-76; mit M. Eisen (Hg.), Händel-Handbuch, 5 Bde., Kassel u.a. 1978-1986.

Literatur DBA II.

Hassan Soilihi Mzé
5.3.2015


Empfohlene Zitierweise:
Hassan Soilihi Mzé, Artikel: Walter Eisen,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/26027 [Zugriff 19.11.2024].