Karl Bücher
Der studierte Historiker und Philologe B. erlangte große Bedeutung als Professor für Nationalökonomie an der Universität Leipzig, der er gleichsam zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Rektor vorstand. Darüber hinaus etablierte er das Leipziger Institut für Zeitungskunde, das als Vorläufer der modernen Kommunikations- und Medienwissenschaft angesehen werden kann. – B. stammte aus einfachen Verhältnissen, sein Vater war Bürstenmacher und Landwirt, seine Mutter Tochter eines Bäckermeisters. Nach einem Studium der Alten Geschichte und Philologie in Bonn und Göttingen (1866-1869) war er als Gymnasiallehrer in Dortmund, Amsterdam und Frankfurt/Main tätig. Bereits 1874 erschien B.s erstes bedeutendes Buch „Die Aufstände der freien Arbeiter 143-129 v. Chr.“. Parallel folgte er 1876 dem Ruf des Verlegers
Leopold Sonnemann zur Frankfurter Zeitung, um dort das sozial- und wirtschaftspolitische Ressort zu übernehmen. Ende der 1870er-Jahre entschied er sich für die akademische Laufbahn und habilitierte 1881 bei
Alphons Helferich für Nationalökonomie und Statistik an der Universität München. Seine ersten Professuren übernahm B. in Dorpat (estn. Tartu) (1882/83), Basel (Schweiz) (1883-1890) und Karlsruhe (1890-1892). – 1891 erhielt B. den Ruf an die Universität Leipzig. Die Besetzung war jedoch von Hindernissen begleitet. Als der Gründer des Staatswissenschaftlichen Seminars
Lujo Brentano 1891 nach München ging, gab es zwei Anwärter auf seinen Lehrstuhl: B. und August von Miaskowski. Letzterer erhielt den Vorzug, da B. unter dem Verdacht des „Kathedersozialismus“ stand. Erst zum Wintersemester 1892/93 wurde B. mit der Schaffung einer zweiten Professur für Nationalökonomie und Statistik mit eigenem Seminar (später Vereinigte Staatswissenschaftliche Seminare) berufen. Für B. bedeutete dies einen Karrieresprung und das Ende seiner Wanderzeit. – B. erwarteten an der renommierten Leipziger Universität Kollegen wie Wilhelm Roscher, Karl Lamprecht, Friedrich Ratzel und Wilhelm Wundt. 1893 erschien „Die Entstehung der Volkswirtschaft“, eine Schrift, die B. weltweit bekannt machte. Darin entwirft B. grundlegende ökonomische Gesetze (z.B. die Wirtschaftsstufentheorie, die Break-Even-Analyse oder das Gesetz der Massenproduktion), die bis heute ihre Gültigkeit haben. Die Betrachtung der historischen, inneren Zusammenhänge volkswirtschaftlicher Phänomene macht ihn neben
Gustav Friedrich Schmoller (ab 1908 von Schmoller) und Brentano zu einem der wichtigsten Vertreter der sog. Jüngeren Historischen Schule. Unter B. wurde die Nationalökonomie zu einer historisch-relativen Sozialwissenschaft. Umso verwunderlicher war es, dass B. 1896 das so gar nicht typisch nationalökonomische Buch „Arbeit und Rhythmus“ veröffentlichte, in dem er sich den Arbeits- und Lebensformen am Beginn der zweiten Industrialisierungswelle widmete. Er begründet darin die Herkunft aller rhythmischen Künste aus den Arbeitsgesängen und zeichnet die Utopie einer harmonischen Gesellschaft, in der die Kollektive durch Arbeitsrhythmen zusammengehalten werden und in der sich das arbeitende Individuum wieder mit der Lebenswelt synchronisiert. B.s Ansatz reagiert sehr zielsicher auf die gesellschaftlichen Umwälzungen von Arbeit und Leben seit dem Aufbruch Deutschlands in die Moderne und dem Strukturwandel der Öffentlichkeit von der liberalen Bürgergesellschaft zur demokratischen Massengesellschaft. Auch die groß angelegte, mehrbändige „Untersuchung zur Lage des Handwerks“, die ab 1895 in Zusammenarbeit mit seinen Studenten entstand, ist eine Reaktion auf die schwierige Situation des Handwerks und dessen Strukturproblemen im Rahmen der Industrialisierung. – B. fasste in Leipzig schnell Fuß in Universität und Stadt. So bekleidete er in den nächsten Jahren diverse Ämter, vom „Prokanzellar“ (1901/02) über den Dekan der Philosophischen Fakultät (1902/03) bis hin zum Rektor der Universität (1903/04). Zudem übernahm er interimistisch die Leitung des Geographischen Instituts von Friedrich Ratzel (1904). Sein Volkswirtschaftlich-Statistisches Seminar leitete und organisierte er beispielgebend für andere nationalökonomische Einrichtungen. So führte er u.a. eine Abteilung für öffentliches Recht ein und verschmolz das Staatswissenschaftliche mit dem Volkswirtschaftlichen Seminar. B.s Lehrtätigkeit wirkte anziehend auf nationale und internationale Studenten, seine Lehrveranstaltungen waren enorm hoch frequentiert. Zu seinen Schülern gehörten u.a. so prominente Persönlichkeiten wie der Mitbegründer des Spartakusbunds
Hermann Ducker (der später sein Famulus wurde), der Mitbegründer der französischen Annales-Schule
Marc Bloch, die Verleger
Alfred Hüthig und
Oskar Siebeck, der spätere Reichskanzler Gustav Stresemann, der Sozialdemokrat und spätere Bürgermeister von Berlin
Otto Suhr oder der spätere russische Außenminister
Michail Tereschtschenko. – Auch außerhalb der Universität war B. überaus aktiv. Bereits 1894 wurde er Mitglied der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. Zudem war er Mitglied der Societas Jablonoviana zu Leipzig, die sich um den deutsch-polnischen Austausch bemühte, sowie 1893 Mitbegründer der Sächsischen Kommission für Geschichte. Darüber hinaus hielt B. auch Vorträge im Leipziger Arbeiterbildungsverein. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war er parteiloses Mitglied des Leipziger Stadtrats. 1901 bis 1924 war B. Herausgeber (bis 1902 mit
Albert Eberhard Friedrich Schäffle) der führenden nationalökonomischen „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“. – 1898 gehörte B. neben Emil Albrecht von Friedberg zu den Mitbegründern der Leipziger Handelshochschule, an der er auch Lehraufgaben übernahm. Er war bis 1917 Mitglied des Senats der Hochschule und verhalf ihr zu enormem Ansehen. – Mit seiner 1903 erschienen Denkschrift „Der deutsche Buchhandel und die Wissenschaft“ initiierte B. den sog. Bücher-Streit. Er wandte sich gegen die vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler im Rahmen der Krönerschen Reform eingeführte bis heute gültige Buchpreisbindung, die Rabatte und Sonderkonditionen für Akademiker und Bibliothekare abschaffte. Auf Anregung B.s gründete sich 1903 in Eisenach der Akademische Schutzverein unter der Leitung von Adolf Wach als erste Interessenvertretung wissenschaftlicher Autoren. – Zum 500-jährigen Jubiläum der Universität Leipzig 1909 wurde die Karl-Bücher-Stiftung eingerichtet, die volkswirtschaftliche Studien unterstützen sollte. Zeitgleich wurde die Edgar-Herfurth-Stiftung gegründet. Der „deutsche Pulitzer“ war Leipziger Großverleger und gab das Vorgängerblatt der Leipziger Volkszeitung heraus. Er sollte zum wichtigsten Financier für B.s letztes Großprojekt werden. – Die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs, in denen sich B. vermehrt auf seinem Sommersitz im thüringischen Bad Liebenstein aufhielt, veranlassten ihn im reifen Alter zu einer Änderung des Arbeitsschwerpunkts. Zeit seines Lebens auch als Journalist und Redakteur tätig, war er erschüttert über die Art und Qualität der Presse in der Kriegsberichterstattung vom Krieg, mithin der Propaganda. Dies war der Hauptgrund für ihn, die Zeitungswissenschaft als eigenständiges Fach an der Universität Leipzig zu etablieren. Das gegen viele Widerstände am 1.11.1916 gegründete Institut für Zeitungskunde war das erste seiner Art in Europa und als Vorläufer der heutigen Kommunikations- und Medienwissenschaften die erste professionelle und institutionalisierte Beschäftigung mit Presse und Kommunikation und zugleich akademisch fundierte berufsvorbereitende Ausbildungsstätte für Journalisten. Die erste Professur für Zeitungskunde wurde erst 1926 durch Erich Everth besetzt.
Quellen Universitätsarchiv Leipzig, Nachlass B.; Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass B.
Werke Die Aufstände der unfreien Arbeiter 143-129 v. Chr., Frankfurt/Main 1874; Die Bevölkerung von Frankfurt am Main im XIV. und XV. Jahrhundert, Tübingen 1886; Die Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen 1893, 171926 (ND New York 1907 [eng.]); Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, 9 Bde., Leipzig 1895-1897; Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1896, 61924 (ND St. Petersburg 1899 [russ.]); Der deutsche Buchhandel und die Wissenschaft, Leipzig 1903, 31904; Die Berufe der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter, Leipzig 1914; Lebenserinnerungen, Tübingen 1919; Gesammelte Aufsätze zur Zeitungskunde, Tübingen 1926.
Literatur G. Brodnitz, Karl B., Tübingen 1931; R. Kötzschke/H. Kretschmar, Sächsische Geschichte, Dresden 1935 (ND Frankfurt/Main 1965, Augsburg 1995), S. 380; J. Backhauß (Hg.), Karl B., Marburg 2000; A. Kutsch (Bearb.), Schriftenverzeichnis Karl B., Leipzig 2000; A. Haase, Karl B. und der Akademische Schutzverein, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 11/2001/2002, S. 141-236; E. Koenen/M. Meyen (Hg.), Karl B., Leipzig 2002; A. Kutsch, Karl B., in: Jubiläen 2005, hrsg. vom Rektor der Universität Leipzig, Leipzig 2005, S. 91-94. – DBA II, III; DBE 2, S. 195; NDB 2, S. 718f.; H. Riedel, Stadtlexikon Leipzig von A bis Z, Leipzig 2005, S. 75; Professorenkatalog der Universität Leipzig.
Porträt Fotografie, Universitätsarchiv Leipzig, Bildarchiv (Bildquelle).
Sebastian Göschel
5.6.2012
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Göschel, Artikel: Karl Bücher,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/853 [Zugriff 22.12.2024].
Karl Bücher
Quellen Universitätsarchiv Leipzig, Nachlass B.; Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass B.
Werke Die Aufstände der unfreien Arbeiter 143-129 v. Chr., Frankfurt/Main 1874; Die Bevölkerung von Frankfurt am Main im XIV. und XV. Jahrhundert, Tübingen 1886; Die Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen 1893, 171926 (ND New York 1907 [eng.]); Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, 9 Bde., Leipzig 1895-1897; Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1896, 61924 (ND St. Petersburg 1899 [russ.]); Der deutsche Buchhandel und die Wissenschaft, Leipzig 1903, 31904; Die Berufe der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter, Leipzig 1914; Lebenserinnerungen, Tübingen 1919; Gesammelte Aufsätze zur Zeitungskunde, Tübingen 1926.
Literatur G. Brodnitz, Karl B., Tübingen 1931; R. Kötzschke/H. Kretschmar, Sächsische Geschichte, Dresden 1935 (ND Frankfurt/Main 1965, Augsburg 1995), S. 380; J. Backhauß (Hg.), Karl B., Marburg 2000; A. Kutsch (Bearb.), Schriftenverzeichnis Karl B., Leipzig 2000; A. Haase, Karl B. und der Akademische Schutzverein, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 11/2001/2002, S. 141-236; E. Koenen/M. Meyen (Hg.), Karl B., Leipzig 2002; A. Kutsch, Karl B., in: Jubiläen 2005, hrsg. vom Rektor der Universität Leipzig, Leipzig 2005, S. 91-94. – DBA II, III; DBE 2, S. 195; NDB 2, S. 718f.; H. Riedel, Stadtlexikon Leipzig von A bis Z, Leipzig 2005, S. 75; Professorenkatalog der Universität Leipzig.
Porträt Fotografie, Universitätsarchiv Leipzig, Bildarchiv (Bildquelle).
Sebastian Göschel
5.6.2012
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Göschel, Artikel: Karl Bücher,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/853 [Zugriff 22.12.2024].